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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
fall der römischen Freiheit. Die praktische Möglichkeit aller
Freiheitsverhältnisse sowohl des öffentlichen als des Privat-
rechts war bedingt dadurch, daß der rechte Geist sie be-
seelte; sowie dieser Geist wich, sowie die Willkühr, Laune,
Zuchtlosigkeit sich ihrer bemächtigte, hatten sie ihren Sinn und
ihre Berechtigung verloren, und an die Stelle des freien Gei-
stes, der sich nicht beschwören ließ, trat überall das Gesetz
und die Beschränkung. Darum darf, wer ein Urtheil über das
Freiheitssystem der alten Zeit fällen, wer den Sinn und Zweck
der Institute desselben begreifen will, keinen Moment die alte
Sittlichkeit und die ganze Zeit außer Augen lassen. Die alte
Sitte ist der unentbehrliche Schlüssel zum Verständniß des alten
Rechts; zeigt uns letzteres die abstracte Freiheit, so erstere die
Selbstbeschränkung der Freiheit, und diese Selbst-
beschränkung war eine stillschweigende Voraussetzung des gan-
zen Rechts. Wenn einst Tacitus es an den alten Germanen
pries, daß die Sitte bei ihnen mehr vermöchte, als anderwärts
die Gesetze, so dürfen wir dasselbe Lob auch für die alten Rö-
mer in Anspruch nehmen -- weil sie sich selbst ein Gesetz waren,
konnten sie in so vielen Punkten der Gesetze entbehren. Das
ältere Recht hat die Anlegung des sittlichen Maßstabes nicht zu
scheuen; nur vergesse man dabei nicht, daß die alte Freiheit,
durch und durch bedingt und moderirt wie sie war, durch die
thatsächlichen Voraussetzungen, die sie in Rom vorfand, nur
aus dem Leben heraus verstanden werden kann. Wer diesen
Gesichtspunkt festhält, der wird nicht umsonst nach dem "sittli-
chen Geist" der altrömischen Einrichtungen suchen, während
dieser Geist allerdings demjenigen, der ohne eine Anschauung
römischen Lebens, römischer Denkart und Sinnesweise sich an
die Aufgabe gewagt hat, niemals erscheinen wird.


Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
fall der römiſchen Freiheit. Die praktiſche Möglichkeit aller
Freiheitsverhältniſſe ſowohl des öffentlichen als des Privat-
rechts war bedingt dadurch, daß der rechte Geiſt ſie be-
ſeelte; ſowie dieſer Geiſt wich, ſowie die Willkühr, Laune,
Zuchtloſigkeit ſich ihrer bemächtigte, hatten ſie ihren Sinn und
ihre Berechtigung verloren, und an die Stelle des freien Gei-
ſtes, der ſich nicht beſchwören ließ, trat überall das Geſetz
und die Beſchränkung. Darum darf, wer ein Urtheil über das
Freiheitsſyſtem der alten Zeit fällen, wer den Sinn und Zweck
der Inſtitute deſſelben begreifen will, keinen Moment die alte
Sittlichkeit und die ganze Zeit außer Augen laſſen. Die alte
Sitte iſt der unentbehrliche Schlüſſel zum Verſtändniß des alten
Rechts; zeigt uns letzteres die abſtracte Freiheit, ſo erſtere die
Selbſtbeſchränkung der Freiheit, und dieſe Selbſt-
beſchränkung war eine ſtillſchweigende Vorausſetzung des gan-
zen Rechts. Wenn einſt Tacitus es an den alten Germanen
pries, daß die Sitte bei ihnen mehr vermöchte, als anderwärts
die Geſetze, ſo dürfen wir daſſelbe Lob auch für die alten Rö-
mer in Anſpruch nehmen — weil ſie ſich ſelbſt ein Geſetz waren,
konnten ſie in ſo vielen Punkten der Geſetze entbehren. Das
ältere Recht hat die Anlegung des ſittlichen Maßſtabes nicht zu
ſcheuen; nur vergeſſe man dabei nicht, daß die alte Freiheit,
durch und durch bedingt und moderirt wie ſie war, durch die
thatſächlichen Vorausſetzungen, die ſie in Rom vorfand, nur
aus dem Leben heraus verſtanden werden kann. Wer dieſen
Geſichtspunkt feſthält, der wird nicht umſonſt nach dem „ſittli-
chen Geiſt“ der altrömiſchen Einrichtungen ſuchen, während
dieſer Geiſt allerdings demjenigen, der ohne eine Anſchauung
römiſchen Lebens, römiſcher Denkart und Sinnesweiſe ſich an
die Aufgabe gewagt hat, niemals erſcheinen wird.


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[320/0334] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. fall der römiſchen Freiheit. Die praktiſche Möglichkeit aller Freiheitsverhältniſſe ſowohl des öffentlichen als des Privat- rechts war bedingt dadurch, daß der rechte Geiſt ſie be- ſeelte; ſowie dieſer Geiſt wich, ſowie die Willkühr, Laune, Zuchtloſigkeit ſich ihrer bemächtigte, hatten ſie ihren Sinn und ihre Berechtigung verloren, und an die Stelle des freien Gei- ſtes, der ſich nicht beſchwören ließ, trat überall das Geſetz und die Beſchränkung. Darum darf, wer ein Urtheil über das Freiheitsſyſtem der alten Zeit fällen, wer den Sinn und Zweck der Inſtitute deſſelben begreifen will, keinen Moment die alte Sittlichkeit und die ganze Zeit außer Augen laſſen. Die alte Sitte iſt der unentbehrliche Schlüſſel zum Verſtändniß des alten Rechts; zeigt uns letzteres die abſtracte Freiheit, ſo erſtere die Selbſtbeſchränkung der Freiheit, und dieſe Selbſt- beſchränkung war eine ſtillſchweigende Vorausſetzung des gan- zen Rechts. Wenn einſt Tacitus es an den alten Germanen pries, daß die Sitte bei ihnen mehr vermöchte, als anderwärts die Geſetze, ſo dürfen wir daſſelbe Lob auch für die alten Rö- mer in Anſpruch nehmen — weil ſie ſich ſelbſt ein Geſetz waren, konnten ſie in ſo vielen Punkten der Geſetze entbehren. Das ältere Recht hat die Anlegung des ſittlichen Maßſtabes nicht zu ſcheuen; nur vergeſſe man dabei nicht, daß die alte Freiheit, durch und durch bedingt und moderirt wie ſie war, durch die thatſächlichen Vorausſetzungen, die ſie in Rom vorfand, nur aus dem Leben heraus verſtanden werden kann. Wer dieſen Geſichtspunkt feſthält, der wird nicht umſonſt nach dem „ſittli- chen Geiſt“ der altrömiſchen Einrichtungen ſuchen, während dieſer Geiſt allerdings demjenigen, der ohne eine Anſchauung römiſchen Lebens, römiſcher Denkart und Sinnesweiſe ſich an die Aufgabe gewagt hat, niemals erſcheinen wird.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/334>, abgerufen am 08.05.2024.