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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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C. Hist. Bedeutung d. Systems. -- Einfluß auf d. Volkscharakter. §. 36.
das Recht will und im Auge hat, sieht sich vor; ihn betrügt
man nicht. Ebenso begeht er keine Versäumnisse und ficht seine
eignen Handlungen nicht an und darum auch keine fremden:
jus civile vigilantibus scriptum est. 472) Mit der Pubertät wird
Jeder Herr seines eignen Vermögens, die Schutzanstalten der
Cura und restitutio in integrum sind dem alten Recht unbe-
kannt, die lex Plaetoria gehört erst dem Ende des fünften Jahr-
hunderts an. Das heißt aber nichts anderes, als die spätern
Römer wurden später selbständig, als die früheren -- eine Er-
scheinung, die nichts auffälliges hat, denn die Cultur und Ci-
vilisation verzögert den Eintritt der praktischen Reife. Wer
mannbar ist, ist in alter Zeit auch Mann und hat die nöthige
Selbständigkeit, um ins praktische Leben zu treten; hätte er sie
nicht gehabt, so würde das alte Recht ihn anders behandelt
haben. Ich werde bei der Theorie des subjektiven Willens noch
Gelegenheit haben, Nachträge zu liefern, namentlich zu zeigen,
wie sehr das ganze ältere Recht auf das eigne Handeln des
Subjekts berechnet war, und will vorläufig schon hier darauf
verweisen.

Daß nun ein Recht dadurch, daß es überall eine männliche
Selbständigkeit voraussetzt, diese Eigenschaft im Volk unterhal-
ten und erzeugen muß, bedarf wohl kaum der Bemerkung.
Wenn die Geschichte Roms eine so beneidenswerthe Menge her-
vorragender Persönlichkeiten und grandioser Charaktere aufzu-
weisen hat, so werden wir den letzten Grund davon allerdings
nicht in irgendwelchen Einrichtungen, die ja ihrerseits nichts
als Produkte des Volksgeistes sind, sondern in dem römischen
Volk selbst zu suchen haben. Aber den Einfluß der äußeren Ein-
richtungen auf die Befestigung der nationalen Sinnesweise, die
Ausbildung und Steigerung der angebornen Anlage werden
wir darum nicht minder zugestehen müssen. Hätte die römische
Kraft, Selbständigkeit, Charakterfestigkeit sich nicht durch per-

472) L. 24 quae in fr. cred. (42. 8.)

C. Hiſt. Bedeutung d. Syſtems. — Einfluß auf d. Volkscharakter. §. 36.
das Recht will und im Auge hat, ſieht ſich vor; ihn betrügt
man nicht. Ebenſo begeht er keine Verſäumniſſe und ficht ſeine
eignen Handlungen nicht an und darum auch keine fremden:
jus civile vigilantibus scriptum est. 472) Mit der Pubertät wird
Jeder Herr ſeines eignen Vermögens, die Schutzanſtalten der
Cura und restitutio in integrum ſind dem alten Recht unbe-
kannt, die lex Plaetoria gehört erſt dem Ende des fünften Jahr-
hunderts an. Das heißt aber nichts anderes, als die ſpätern
Römer wurden ſpäter ſelbſtändig, als die früheren — eine Er-
ſcheinung, die nichts auffälliges hat, denn die Cultur und Ci-
viliſation verzögert den Eintritt der praktiſchen Reife. Wer
mannbar iſt, iſt in alter Zeit auch Mann und hat die nöthige
Selbſtändigkeit, um ins praktiſche Leben zu treten; hätte er ſie
nicht gehabt, ſo würde das alte Recht ihn anders behandelt
haben. Ich werde bei der Theorie des ſubjektiven Willens noch
Gelegenheit haben, Nachträge zu liefern, namentlich zu zeigen,
wie ſehr das ganze ältere Recht auf das eigne Handeln des
Subjekts berechnet war, und will vorläufig ſchon hier darauf
verweiſen.

Daß nun ein Recht dadurch, daß es überall eine männliche
Selbſtändigkeit vorausſetzt, dieſe Eigenſchaft im Volk unterhal-
ten und erzeugen muß, bedarf wohl kaum der Bemerkung.
Wenn die Geſchichte Roms eine ſo beneidenswerthe Menge her-
vorragender Perſönlichkeiten und grandioſer Charaktere aufzu-
weiſen hat, ſo werden wir den letzten Grund davon allerdings
nicht in irgendwelchen Einrichtungen, die ja ihrerſeits nichts
als Produkte des Volksgeiſtes ſind, ſondern in dem römiſchen
Volk ſelbſt zu ſuchen haben. Aber den Einfluß der äußeren Ein-
richtungen auf die Befeſtigung der nationalen Sinnesweiſe, die
Ausbildung und Steigerung der angebornen Anlage werden
wir darum nicht minder zugeſtehen müſſen. Hätte die römiſche
Kraft, Selbſtändigkeit, Charakterfeſtigkeit ſich nicht durch per-

472) L. 24 quae in fr. cred. (42. 8.)
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[317/0331] C. Hiſt. Bedeutung d. Syſtems. — Einfluß auf d. Volkscharakter. §. 36. das Recht will und im Auge hat, ſieht ſich vor; ihn betrügt man nicht. Ebenſo begeht er keine Verſäumniſſe und ficht ſeine eignen Handlungen nicht an und darum auch keine fremden: jus civile vigilantibus scriptum est. 472) Mit der Pubertät wird Jeder Herr ſeines eignen Vermögens, die Schutzanſtalten der Cura und restitutio in integrum ſind dem alten Recht unbe- kannt, die lex Plaetoria gehört erſt dem Ende des fünften Jahr- hunderts an. Das heißt aber nichts anderes, als die ſpätern Römer wurden ſpäter ſelbſtändig, als die früheren — eine Er- ſcheinung, die nichts auffälliges hat, denn die Cultur und Ci- viliſation verzögert den Eintritt der praktiſchen Reife. Wer mannbar iſt, iſt in alter Zeit auch Mann und hat die nöthige Selbſtändigkeit, um ins praktiſche Leben zu treten; hätte er ſie nicht gehabt, ſo würde das alte Recht ihn anders behandelt haben. Ich werde bei der Theorie des ſubjektiven Willens noch Gelegenheit haben, Nachträge zu liefern, namentlich zu zeigen, wie ſehr das ganze ältere Recht auf das eigne Handeln des Subjekts berechnet war, und will vorläufig ſchon hier darauf verweiſen. Daß nun ein Recht dadurch, daß es überall eine männliche Selbſtändigkeit vorausſetzt, dieſe Eigenſchaft im Volk unterhal- ten und erzeugen muß, bedarf wohl kaum der Bemerkung. Wenn die Geſchichte Roms eine ſo beneidenswerthe Menge her- vorragender Perſönlichkeiten und grandioſer Charaktere aufzu- weiſen hat, ſo werden wir den letzten Grund davon allerdings nicht in irgendwelchen Einrichtungen, die ja ihrerſeits nichts als Produkte des Volksgeiſtes ſind, ſondern in dem römiſchen Volk ſelbſt zu ſuchen haben. Aber den Einfluß der äußeren Ein- richtungen auf die Befeſtigung der nationalen Sinnesweiſe, die Ausbildung und Steigerung der angebornen Anlage werden wir darum nicht minder zugeſtehen müſſen. Hätte die römiſche Kraft, Selbſtändigkeit, Charakterfeſtigkeit ſich nicht durch per- 472) L. 24 quae in fr. cred. (42. 8.)

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/331>, abgerufen am 29.11.2024.