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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
selbe von Seiten seines natürlich-sittlichen Zusammenhanges
mit der römischen Welt ins Auge zu fassen. Ich will in
dieser Beziehung zuerst des Einflusses unseres Systems auf das
römische Volk gedenken. Der Quellpunkt unseres ganzen Sy-
stems war die Idee der Persönlichkeit, das Endziel desselben:
der Persönlichkeit in allen Verhältnissen des privaten wie des
öffentlichen Lebens die rechtliche Möglichkeit einer freien Ent-
faltung ihrer selbst und aller ihrer Kräfte zu gewähren. Das
ganze Recht war ein praktischer Hymnus auf den Werth und
den Beruf der Persönlichkeit, die Moral desselben: Entwick-
lung und Bethätigung der Persönlichkeit. Dem Römer ward
durch sein Recht von früh auf die Lehre gepredigt, daß der
Mann dazu da ist, sich selbst seine Welt zu gründen, selbst
für sich einzustehen, selbst die Entscheidung zu treffen, daß jeder
der Herr seiner Thaten und der Schmied seines Glückes ist.
Für einen schwachen Charakter war die römische Welt nicht ge-
macht. Wer sich hier mit Erfolg bewegen wollte, dem durfte das
Eisen im Charakter und die Selbständigkeit in der Ansicht nicht
fehlen. So nicht bloß hinsichtlich der Verhältnisse des öffent-
lichen, sondern ebensowohl hinsichtlich der des Privatrechts.
Uns heutzutage beschirmt und beschützt das Recht von der Ge-
burt an bis zum Tode; es verschafft uns das Vermögen der
Eltern, indem es sie zwingt, uns dasselbe zu hinterlassen, es
bewahrt uns dasselbe wider unsern Willen bis zur erreichten
Volljährigkeit, es gewährt uns Hülfe, wenn wir uns haben
betrügen oder zwingen lassen, und macht es uns möglich, unsere
eignen wie fremde Handlungen, die uns nachtheilig geworden
sind, anzufechten, Versehen, Versäumnisse ungeschehen zu ma-
chen. Von alle dem ist im ältern römischen Recht keine Spur.
Wer sich hat zwingen lassen, trägt selbst die Schuld -- der
Mann läßt sich nicht zwingen; etiamsi coactus, attamen vo-
luit.
471) Wer betrogen ist, gleichfalls; denn der Mann, wie ihn

471) L. 21 §. 5 quod met. (4. 2.)

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſelbe von Seiten ſeines natürlich-ſittlichen Zuſammenhanges
mit der römiſchen Welt ins Auge zu faſſen. Ich will in
dieſer Beziehung zuerſt des Einfluſſes unſeres Syſtems auf das
römiſche Volk gedenken. Der Quellpunkt unſeres ganzen Sy-
ſtems war die Idee der Perſönlichkeit, das Endziel deſſelben:
der Perſönlichkeit in allen Verhältniſſen des privaten wie des
öffentlichen Lebens die rechtliche Möglichkeit einer freien Ent-
faltung ihrer ſelbſt und aller ihrer Kräfte zu gewähren. Das
ganze Recht war ein praktiſcher Hymnus auf den Werth und
den Beruf der Perſönlichkeit, die Moral deſſelben: Entwick-
lung und Bethätigung der Perſönlichkeit. Dem Römer ward
durch ſein Recht von früh auf die Lehre gepredigt, daß der
Mann dazu da iſt, ſich ſelbſt ſeine Welt zu gründen, ſelbſt
für ſich einzuſtehen, ſelbſt die Entſcheidung zu treffen, daß jeder
der Herr ſeiner Thaten und der Schmied ſeines Glückes iſt.
Für einen ſchwachen Charakter war die römiſche Welt nicht ge-
macht. Wer ſich hier mit Erfolg bewegen wollte, dem durfte das
Eiſen im Charakter und die Selbſtändigkeit in der Anſicht nicht
fehlen. So nicht bloß hinſichtlich der Verhältniſſe des öffent-
lichen, ſondern ebenſowohl hinſichtlich der des Privatrechts.
Uns heutzutage beſchirmt und beſchützt das Recht von der Ge-
burt an bis zum Tode; es verſchafft uns das Vermögen der
Eltern, indem es ſie zwingt, uns daſſelbe zu hinterlaſſen, es
bewahrt uns daſſelbe wider unſern Willen bis zur erreichten
Volljährigkeit, es gewährt uns Hülfe, wenn wir uns haben
betrügen oder zwingen laſſen, und macht es uns möglich, unſere
eignen wie fremde Handlungen, die uns nachtheilig geworden
ſind, anzufechten, Verſehen, Verſäumniſſe ungeſchehen zu ma-
chen. Von alle dem iſt im ältern römiſchen Recht keine Spur.
Wer ſich hat zwingen laſſen, trägt ſelbſt die Schuld — der
Mann läßt ſich nicht zwingen; etiamsi coactus, attamen vo-
luit.
471) Wer betrogen iſt, gleichfalls; denn der Mann, wie ihn

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[316/0330] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ſelbe von Seiten ſeines natürlich-ſittlichen Zuſammenhanges mit der römiſchen Welt ins Auge zu faſſen. Ich will in dieſer Beziehung zuerſt des Einfluſſes unſeres Syſtems auf das römiſche Volk gedenken. Der Quellpunkt unſeres ganzen Sy- ſtems war die Idee der Perſönlichkeit, das Endziel deſſelben: der Perſönlichkeit in allen Verhältniſſen des privaten wie des öffentlichen Lebens die rechtliche Möglichkeit einer freien Ent- faltung ihrer ſelbſt und aller ihrer Kräfte zu gewähren. Das ganze Recht war ein praktiſcher Hymnus auf den Werth und den Beruf der Perſönlichkeit, die Moral deſſelben: Entwick- lung und Bethätigung der Perſönlichkeit. Dem Römer ward durch ſein Recht von früh auf die Lehre gepredigt, daß der Mann dazu da iſt, ſich ſelbſt ſeine Welt zu gründen, ſelbſt für ſich einzuſtehen, ſelbſt die Entſcheidung zu treffen, daß jeder der Herr ſeiner Thaten und der Schmied ſeines Glückes iſt. Für einen ſchwachen Charakter war die römiſche Welt nicht ge- macht. Wer ſich hier mit Erfolg bewegen wollte, dem durfte das Eiſen im Charakter und die Selbſtändigkeit in der Anſicht nicht fehlen. So nicht bloß hinſichtlich der Verhältniſſe des öffent- lichen, ſondern ebenſowohl hinſichtlich der des Privatrechts. Uns heutzutage beſchirmt und beſchützt das Recht von der Ge- burt an bis zum Tode; es verſchafft uns das Vermögen der Eltern, indem es ſie zwingt, uns daſſelbe zu hinterlaſſen, es bewahrt uns daſſelbe wider unſern Willen bis zur erreichten Volljährigkeit, es gewährt uns Hülfe, wenn wir uns haben betrügen oder zwingen laſſen, und macht es uns möglich, unſere eignen wie fremde Handlungen, die uns nachtheilig geworden ſind, anzufechten, Verſehen, Verſäumniſſe ungeſchehen zu ma- chen. Von alle dem iſt im ältern römiſchen Recht keine Spur. Wer ſich hat zwingen laſſen, trägt ſelbſt die Schuld — der Mann läßt ſich nicht zwingen; etiamsi coactus, attamen vo- luit. 471) Wer betrogen iſt, gleichfalls; denn der Mann, wie ihn 471) L. 21 §. 5 quod met. (4. 2.)

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/330>, abgerufen am 29.11.2024.