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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. System der Autonomie. §. 31.

Wir wollen jetzt das System der Autonomie 167) im Einzelnen
kennen lernen. Von den einzelnen Ausflüssen werden wir vor-
zugsweise Einen, den die abstracte Auffassungsweise ganz be-
sonders entstellt hat, und an dem die von uns versuchte Be-
trachtungsweise ihre Probe wird bestehen müssen, zum Gegen-
stand einer eingehenderen Darstellung machen, nämlich die
hausherrliche Gewalt. Die übrigen Ausflüsse werden wir kür-
zer behandeln können.

Die XII Tafeln hatten die Autonomie, wie bereits S. 68
mitgetheilt ward, nach drei wichtigen Seiten hin anerkannt:
hinsichtlich der Rechtsgeschäfte unter Lebenden für das Nexum
und die Mancipation (Cum nexum faciet mancipiumve, uti
lingua nuncupassit, ita jus esto
), hinsichtlich letztwilliger Ver-
fügungen in Form des Testaments (uti legassit super pecunia tu-
telave suae rei, ita jus esto
) und sodann hinsichtlich des Associa-
tionswesens (wo uns zwar nicht die Worte, aber doch der Inhalt
derselben erhalten ist: potestatem facit lex, pactionem, quam
velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant
).
Einen so reichen Inhalt jene Worte des Gesetzes auch in sich
schlossen, so reichte doch das System der Autonomie unendlich
viel weiter, als es in jenem Gesetz ausdrücklich anerkannt
war. In manchen Beziehungen war es in der römischen
Ansicht so festgewurzelt, daß man gar nicht auf die Idee kom-

167) Wenn ich mich entschlossen habe, diesen nicht unbedenklichen Ausdruck
zu gebrauchen, so geschah es nur aus Gründen der Darstellung, namentlich
weil kein anderer Ausdruck so sehr unsern Gesichtspunkt wiedergibt, daß das
Subjekt Grund und Quelle seines Rechts ist (autos nomos). Im übrigen aber
hat mich die lichtvolle Abhandlung Gerbers über den Begriff der Autonomie
im Archiv für civ. Praxis B. 37, S. 35, die so eben in meine Hände kommt,
überzeugt, daß der eigenthümliche Begriff, den Manche nach Puchta's
Vorgange mit diesem Ausdruck haben verbinden wollen, eine dogmatische
Wahrheit überall nicht beanspruchen kann. In dem von mir hier zu Grunde
gelegten vulgären Sinn ist er nur ein anderer Ausdruck für Freiheit des
rechtlichen Willens, Dispositionsbefugniß u. s. w., aber nur für den vorliegen-
den Zweck bei der angegebenen Begriffsnüancirung, die er enthält, besonders
brauchbar.
A. Stellung des Indiv. Syſtem der Autonomie. §. 31.

Wir wollen jetzt das Syſtem der Autonomie 167) im Einzelnen
kennen lernen. Von den einzelnen Ausflüſſen werden wir vor-
zugsweiſe Einen, den die abſtracte Auffaſſungsweiſe ganz be-
ſonders entſtellt hat, und an dem die von uns verſuchte Be-
trachtungsweiſe ihre Probe wird beſtehen müſſen, zum Gegen-
ſtand einer eingehenderen Darſtellung machen, nämlich die
hausherrliche Gewalt. Die übrigen Ausflüſſe werden wir kür-
zer behandeln können.

Die XII Tafeln hatten die Autonomie, wie bereits S. 68
mitgetheilt ward, nach drei wichtigen Seiten hin anerkannt:
hinſichtlich der Rechtsgeſchäfte unter Lebenden für das Nexum
und die Mancipation (Cum nexum faciet mancipiumve, uti
lingua nuncupassit, ita jus esto
), hinſichtlich letztwilliger Ver-
fügungen in Form des Teſtaments (uti legassit super pecunia tu-
telave suae rei, ita jus esto
) und ſodann hinſichtlich des Aſſocia-
tionsweſens (wo uns zwar nicht die Worte, aber doch der Inhalt
derſelben erhalten iſt: potestatem facit lex, pactionem, quam
velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant
).
Einen ſo reichen Inhalt jene Worte des Geſetzes auch in ſich
ſchloſſen, ſo reichte doch das Syſtem der Autonomie unendlich
viel weiter, als es in jenem Geſetz ausdrücklich anerkannt
war. In manchen Beziehungen war es in der römiſchen
Anſicht ſo feſtgewurzelt, daß man gar nicht auf die Idee kom-

167) Wenn ich mich entſchloſſen habe, dieſen nicht unbedenklichen Ausdruck
zu gebrauchen, ſo geſchah es nur aus Gründen der Darſtellung, namentlich
weil kein anderer Ausdruck ſo ſehr unſern Geſichtspunkt wiedergibt, daß das
Subjekt Grund und Quelle ſeines Rechts iſt (αὐτὸς νόμος). Im übrigen aber
hat mich die lichtvolle Abhandlung Gerbers über den Begriff der Autonomie
im Archiv für civ. Praxis B. 37, S. 35, die ſo eben in meine Hände kommt,
überzeugt, daß der eigenthümliche Begriff, den Manche nach Puchta’s
Vorgange mit dieſem Ausdruck haben verbinden wollen, eine dogmatiſche
Wahrheit überall nicht beanſpruchen kann. In dem von mir hier zu Grunde
gelegten vulgären Sinn iſt er nur ein anderer Ausdruck für Freiheit des
rechtlichen Willens, Dispoſitionsbefugniß u. ſ. w., aber nur für den vorliegen-
den Zweck bei der angegebenen Begriffsnüancirung, die er enthält, beſonders
brauchbar.
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[151/0165] A. Stellung des Indiv. Syſtem der Autonomie. §. 31. Wir wollen jetzt das Syſtem der Autonomie 167) im Einzelnen kennen lernen. Von den einzelnen Ausflüſſen werden wir vor- zugsweiſe Einen, den die abſtracte Auffaſſungsweiſe ganz be- ſonders entſtellt hat, und an dem die von uns verſuchte Be- trachtungsweiſe ihre Probe wird beſtehen müſſen, zum Gegen- ſtand einer eingehenderen Darſtellung machen, nämlich die hausherrliche Gewalt. Die übrigen Ausflüſſe werden wir kür- zer behandeln können. Die XII Tafeln hatten die Autonomie, wie bereits S. 68 mitgetheilt ward, nach drei wichtigen Seiten hin anerkannt: hinſichtlich der Rechtsgeſchäfte unter Lebenden für das Nexum und die Mancipation (Cum nexum faciet mancipiumve, uti lingua nuncupassit, ita jus esto), hinſichtlich letztwilliger Ver- fügungen in Form des Teſtaments (uti legassit super pecunia tu- telave suae rei, ita jus esto) und ſodann hinſichtlich des Aſſocia- tionsweſens (wo uns zwar nicht die Worte, aber doch der Inhalt derſelben erhalten iſt: potestatem facit lex, pactionem, quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant). Einen ſo reichen Inhalt jene Worte des Geſetzes auch in ſich ſchloſſen, ſo reichte doch das Syſtem der Autonomie unendlich viel weiter, als es in jenem Geſetz ausdrücklich anerkannt war. In manchen Beziehungen war es in der römiſchen Anſicht ſo feſtgewurzelt, daß man gar nicht auf die Idee kom- 167) Wenn ich mich entſchloſſen habe, dieſen nicht unbedenklichen Ausdruck zu gebrauchen, ſo geſchah es nur aus Gründen der Darſtellung, namentlich weil kein anderer Ausdruck ſo ſehr unſern Geſichtspunkt wiedergibt, daß das Subjekt Grund und Quelle ſeines Rechts iſt (αὐτὸς νόμος). Im übrigen aber hat mich die lichtvolle Abhandlung Gerbers über den Begriff der Autonomie im Archiv für civ. Praxis B. 37, S. 35, die ſo eben in meine Hände kommt, überzeugt, daß der eigenthümliche Begriff, den Manche nach Puchta’s Vorgange mit dieſem Ausdruck haben verbinden wollen, eine dogmatiſche Wahrheit überall nicht beanſpruchen kann. In dem von mir hier zu Grunde gelegten vulgären Sinn iſt er nur ein anderer Ausdruck für Freiheit des rechtlichen Willens, Dispoſitionsbefugniß u. ſ. w., aber nur für den vorliegen- den Zweck bei der angegebenen Begriffsnüancirung, die er enthält, beſonders brauchbar.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/165>, abgerufen am 23.11.2024.