Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Persönlichkeit enthält -- das ist das, wodurch der Mensch zum
Gefühl seines Werthes und zur Ahnung seiner Gottebenbild-
lichkeit gelangt.

Diese schöpferische Thätigkeit zu entfalten, ist das höchste
Recht des Menschen und ein unentbehrliches Mittel zu seiner
sittlichen Selbsterziehung. Sie setzt die Freiheit, also auch den
Mißbrauch derselben, die Wahl des Schlechten, Zweckwidrigen,
Unverständigen u. s. w. voraus, denn als unsere Schöpfung
läßt sich nur das betrachten, was frei aus der Persönlichkeit
hervorgegangen ist. Den Menschen zum Guten, Vernünftigen
u. s. w. zwingen, ist nicht sowohl darum eine Verfündigung
gegen seine Bestimmung, weil ihm damit die Wahl des Ent-
gegengesetzten verschlossen, als weil ihm damit die Möglich-
keit, das Gute aus eignem Antriebe zu thun, entzogen wird.

Der Wille erlangt nun erst im Staat die Möglichkeit ge-
sicherter Verwirklichung, und es ist eine Verpflichtung des
Staats, den produktiven Beruf des Willens als rechtliche
Macht und Freiheit
anzuerkennen und zu schützen. Aber in
welcher Ausdehnung? Die Erfahrung zeigt überall das Be-
stehen von gesetzlichen Beschränkungen der Freiheit, die lediglich
vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet nicht zu dedu-
ciren wären, zu denen also der Staat nicht berechtigt wäre,
wenn er bloß die Aufgabe hätte, die subjektive Freiheit zu rea-
lisiren. Daß diese letztere Supposition unrichtig ist, daß also
dem Staat das Recht zu einem derartigen Eingreifen in die
individuelle Freiheitssphäre nicht bestritten werden kann, dar-
über braucht heutzutage kein Wort verloren zu werden. Aber
wie weit reicht es? Darf der Staat alles, was ihm gut, sitt-
lich, zweckmäßig erscheint, zum Gesetz erheben, so gibt es für
dieses Recht keine Schranken, und das oben deducirte Recht der
Persönlichkeit ist in Frage gestellt; die Bewegung, die er ihr
verstattet, hat dann bloß den Charakter einer Concession, ist ein
reines Gnadengeschenk. Diese Ansicht von der alles verschlin-
genden und alles aus sich erst wieder gebärenden Omnipotenz

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Perſönlichkeit enthält — das iſt das, wodurch der Menſch zum
Gefühl ſeines Werthes und zur Ahnung ſeiner Gottebenbild-
lichkeit gelangt.

Dieſe ſchöpferiſche Thätigkeit zu entfalten, iſt das höchſte
Recht des Menſchen und ein unentbehrliches Mittel zu ſeiner
ſittlichen Selbſterziehung. Sie ſetzt die Freiheit, alſo auch den
Mißbrauch derſelben, die Wahl des Schlechten, Zweckwidrigen,
Unverſtändigen u. ſ. w. voraus, denn als unſere Schöpfung
läßt ſich nur das betrachten, was frei aus der Perſönlichkeit
hervorgegangen iſt. Den Menſchen zum Guten, Vernünftigen
u. ſ. w. zwingen, iſt nicht ſowohl darum eine Verfündigung
gegen ſeine Beſtimmung, weil ihm damit die Wahl des Ent-
gegengeſetzten verſchloſſen, als weil ihm damit die Möglich-
keit, das Gute aus eignem Antriebe zu thun, entzogen wird.

Der Wille erlangt nun erſt im Staat die Möglichkeit ge-
ſicherter Verwirklichung, und es iſt eine Verpflichtung des
Staats, den produktiven Beruf des Willens als rechtliche
Macht und Freiheit
anzuerkennen und zu ſchützen. Aber in
welcher Ausdehnung? Die Erfahrung zeigt überall das Be-
ſtehen von geſetzlichen Beſchränkungen der Freiheit, die lediglich
vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet nicht zu dedu-
ciren wären, zu denen alſo der Staat nicht berechtigt wäre,
wenn er bloß die Aufgabe hätte, die ſubjektive Freiheit zu rea-
liſiren. Daß dieſe letztere Suppoſition unrichtig iſt, daß alſo
dem Staat das Recht zu einem derartigen Eingreifen in die
individuelle Freiheitsſphäre nicht beſtritten werden kann, dar-
über braucht heutzutage kein Wort verloren zu werden. Aber
wie weit reicht es? Darf der Staat alles, was ihm gut, ſitt-
lich, zweckmäßig erſcheint, zum Geſetz erheben, ſo gibt es für
dieſes Recht keine Schranken, und das oben deducirte Recht der
Perſönlichkeit iſt in Frage geſtellt; die Bewegung, die er ihr
verſtattet, hat dann bloß den Charakter einer Conceſſion, iſt ein
reines Gnadengeſchenk. Dieſe Anſicht von der alles verſchlin-
genden und alles aus ſich erſt wieder gebärenden Omnipotenz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0144" n="130"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/>
Per&#x017F;önlichkeit enthält &#x2014; das i&#x017F;t das, wodurch der Men&#x017F;ch zum<lb/>
Gefühl &#x017F;eines Werthes und zur Ahnung &#x017F;einer Gottebenbild-<lb/>
lichkeit gelangt.</p><lb/>
                <p>Die&#x017F;e &#x017F;chöpferi&#x017F;che Thätigkeit zu entfalten, i&#x017F;t das höch&#x017F;te<lb/>
Recht des Men&#x017F;chen und ein unentbehrliches Mittel zu &#x017F;einer<lb/>
&#x017F;ittlichen Selb&#x017F;terziehung. Sie &#x017F;etzt die Freiheit, al&#x017F;o auch den<lb/>
Mißbrauch der&#x017F;elben, die Wahl des Schlechten, Zweckwidrigen,<lb/>
Unver&#x017F;tändigen u. &#x017F;. w. voraus, denn als un&#x017F;ere Schöpfung<lb/>
läßt &#x017F;ich nur das betrachten, was frei aus der Per&#x017F;önlichkeit<lb/>
hervorgegangen i&#x017F;t. Den Men&#x017F;chen zum Guten, Vernünftigen<lb/>
u. &#x017F;. w. <hi rendition="#g">zwingen</hi>, i&#x017F;t nicht &#x017F;owohl darum eine Verfündigung<lb/>
gegen &#x017F;eine Be&#x017F;timmung, weil ihm damit die Wahl des Ent-<lb/>
gegenge&#x017F;etzten <hi rendition="#g">ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en</hi>, als weil ihm damit die Möglich-<lb/>
keit, das <hi rendition="#g">Gute</hi> aus <hi rendition="#g">eignem</hi> Antriebe zu thun, entzogen wird.</p><lb/>
                <p>Der Wille erlangt nun er&#x017F;t im Staat die Möglichkeit ge-<lb/>
&#x017F;icherter Verwirklichung, und es i&#x017F;t eine Verpflichtung des<lb/>
Staats, den produktiven Beruf des Willens als <hi rendition="#g">rechtliche<lb/>
Macht und Freiheit</hi> anzuerkennen und zu &#x017F;chützen. Aber in<lb/>
welcher Ausdehnung? Die Erfahrung zeigt überall das Be-<lb/>
&#x017F;tehen von ge&#x017F;etzlichen Be&#x017F;chränkungen der Freiheit, die lediglich<lb/>
vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet nicht zu dedu-<lb/>
ciren wären, zu denen al&#x017F;o der Staat nicht berechtigt wäre,<lb/>
wenn er bloß die Aufgabe hätte, die &#x017F;ubjektive Freiheit zu rea-<lb/>
li&#x017F;iren. Daß die&#x017F;e letztere Suppo&#x017F;ition unrichtig i&#x017F;t, daß al&#x017F;o<lb/>
dem Staat das Recht zu einem derartigen Eingreifen in die<lb/>
individuelle Freiheits&#x017F;phäre nicht be&#x017F;tritten werden kann, dar-<lb/>
über braucht heutzutage kein Wort verloren zu werden. Aber<lb/>
wie weit reicht es? Darf der Staat alles, was ihm gut, &#x017F;itt-<lb/>
lich, zweckmäßig er&#x017F;cheint, zum Ge&#x017F;etz erheben, &#x017F;o gibt es für<lb/>
die&#x017F;es Recht keine Schranken, und das oben deducirte Recht der<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t in Frage ge&#x017F;tellt; die Bewegung, die er ihr<lb/>
ver&#x017F;tattet, hat dann bloß den Charakter einer Conce&#x017F;&#x017F;ion, i&#x017F;t ein<lb/>
reines Gnadenge&#x017F;chenk. Die&#x017F;e An&#x017F;icht von der alles ver&#x017F;chlin-<lb/>
genden und alles aus &#x017F;ich er&#x017F;t wieder gebärenden Omnipotenz<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0144] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Perſönlichkeit enthält — das iſt das, wodurch der Menſch zum Gefühl ſeines Werthes und zur Ahnung ſeiner Gottebenbild- lichkeit gelangt. Dieſe ſchöpferiſche Thätigkeit zu entfalten, iſt das höchſte Recht des Menſchen und ein unentbehrliches Mittel zu ſeiner ſittlichen Selbſterziehung. Sie ſetzt die Freiheit, alſo auch den Mißbrauch derſelben, die Wahl des Schlechten, Zweckwidrigen, Unverſtändigen u. ſ. w. voraus, denn als unſere Schöpfung läßt ſich nur das betrachten, was frei aus der Perſönlichkeit hervorgegangen iſt. Den Menſchen zum Guten, Vernünftigen u. ſ. w. zwingen, iſt nicht ſowohl darum eine Verfündigung gegen ſeine Beſtimmung, weil ihm damit die Wahl des Ent- gegengeſetzten verſchloſſen, als weil ihm damit die Möglich- keit, das Gute aus eignem Antriebe zu thun, entzogen wird. Der Wille erlangt nun erſt im Staat die Möglichkeit ge- ſicherter Verwirklichung, und es iſt eine Verpflichtung des Staats, den produktiven Beruf des Willens als rechtliche Macht und Freiheit anzuerkennen und zu ſchützen. Aber in welcher Ausdehnung? Die Erfahrung zeigt überall das Be- ſtehen von geſetzlichen Beſchränkungen der Freiheit, die lediglich vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet nicht zu dedu- ciren wären, zu denen alſo der Staat nicht berechtigt wäre, wenn er bloß die Aufgabe hätte, die ſubjektive Freiheit zu rea- liſiren. Daß dieſe letztere Suppoſition unrichtig iſt, daß alſo dem Staat das Recht zu einem derartigen Eingreifen in die individuelle Freiheitsſphäre nicht beſtritten werden kann, dar- über braucht heutzutage kein Wort verloren zu werden. Aber wie weit reicht es? Darf der Staat alles, was ihm gut, ſitt- lich, zweckmäßig erſcheint, zum Geſetz erheben, ſo gibt es für dieſes Recht keine Schranken, und das oben deducirte Recht der Perſönlichkeit iſt in Frage geſtellt; die Bewegung, die er ihr verſtattet, hat dann bloß den Charakter einer Conceſſion, iſt ein reines Gnadengeſchenk. Dieſe Anſicht von der alles verſchlin- genden und alles aus ſich erſt wieder gebärenden Omnipotenz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/144
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/144>, abgerufen am 06.05.2024.