Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite
III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. -- Das System d. Freiheit etc. §. 30.

Vom niedrigsten Utilitäts-Standpunkte aus betrachtet
möchte nun immerhin letztere sich mit ersterer messen können,
der Wohlstand des Volks, die äußere Ordnung und Moralität
u. s. w. unter ihr nicht minder gedeihen, als unter jener -- ob-
gleich die Erfahrung bekanntlich das Gegentheil lehrt; denn
die Unfreiheit ist nie weder des moralischen noch intellektuellen
Schwunges der Freiheit fähig; das Gängelband, in dem sie
gehen muß, hindert sie eben so oft an der Bewegung, als es ihr
dieselbe erleichtert. Aber selbst wenn sie äußerlich glänzendere
Resultate aufzuweisen hätte, als die Freiheit, was würde dieser
Mehrgewinn bedeuten, wenn er durch eine Einbuße an unschätz-
baren innern Gütern und immateriellen Werthen erkauft wer-
den müßte, oder wenn die Rechtsidee gegen sie Protest einlegte?

Und beides ist der Fall. Einem Volke, das bisher unter
dem System der Freiheit gelebt hat, werde durch äußere Gewalt
das entgegengesetzte aufgedrungen, und die nachtheiligsten Ein-
wirkungen auf den Charakter desselben werden nicht ausbleiben
können. Die Selbständigkeit des Volks, sein Selbstvertrauen,
sein Unternehmungsgeist, seine Thatkraft werden abnehmen;
denn alle diese Eigenschaften haben nur auf dem Boden der Frei-
heit ihr rechtes Gedeihen, weil sie nur hier unentbehrlich sind.

So wenig man hierüber ein Wort zu verlieren braucht, so
sehr scheint mir der zweite Punkt, das Verhältniß des Systems
der Unfreiheit zur Rechtsidee, einer nähern Ausführung zu be-
dürfen.

Die Freiheit als bloßer Zustand des Nichtbestimmtwerdens
hat in dieser ihrer bloßen Negativität keine Berechtigung, ge-
winnt dieselbe vielmehr erst dadurch, daß eine positiv schöpfe-
rische Kraft, der Wille, sie zu ihrer Voraussetzung hat. Der
Wille ist das schöpferisch gestaltende Organ der Persönlichkeit,
in der Bethätigung dieser Schöpferkraft erhebt dieselbe sich zur
Gottähnlichkeit. Sich als Schöpfer einer noch so kleinen Welt
wissen, sich abspiegeln in seiner Schöpfung als etwas, das vor
ihm nicht da war, das nur ihm gehört, die Objektivirung seiner

Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 9
III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.

Vom niedrigſten Utilitäts-Standpunkte aus betrachtet
möchte nun immerhin letztere ſich mit erſterer meſſen können,
der Wohlſtand des Volks, die äußere Ordnung und Moralität
u. ſ. w. unter ihr nicht minder gedeihen, als unter jener — ob-
gleich die Erfahrung bekanntlich das Gegentheil lehrt; denn
die Unfreiheit iſt nie weder des moraliſchen noch intellektuellen
Schwunges der Freiheit fähig; das Gängelband, in dem ſie
gehen muß, hindert ſie eben ſo oft an der Bewegung, als es ihr
dieſelbe erleichtert. Aber ſelbſt wenn ſie äußerlich glänzendere
Reſultate aufzuweiſen hätte, als die Freiheit, was würde dieſer
Mehrgewinn bedeuten, wenn er durch eine Einbuße an unſchätz-
baren innern Gütern und immateriellen Werthen erkauft wer-
den müßte, oder wenn die Rechtsidee gegen ſie Proteſt einlegte?

Und beides iſt der Fall. Einem Volke, das bisher unter
dem Syſtem der Freiheit gelebt hat, werde durch äußere Gewalt
das entgegengeſetzte aufgedrungen, und die nachtheiligſten Ein-
wirkungen auf den Charakter deſſelben werden nicht ausbleiben
können. Die Selbſtändigkeit des Volks, ſein Selbſtvertrauen,
ſein Unternehmungsgeiſt, ſeine Thatkraft werden abnehmen;
denn alle dieſe Eigenſchaften haben nur auf dem Boden der Frei-
heit ihr rechtes Gedeihen, weil ſie nur hier unentbehrlich ſind.

So wenig man hierüber ein Wort zu verlieren braucht, ſo
ſehr ſcheint mir der zweite Punkt, das Verhältniß des Syſtems
der Unfreiheit zur Rechtsidee, einer nähern Ausführung zu be-
dürfen.

Die Freiheit als bloßer Zuſtand des Nichtbeſtimmtwerdens
hat in dieſer ihrer bloßen Negativität keine Berechtigung, ge-
winnt dieſelbe vielmehr erſt dadurch, daß eine poſitiv ſchöpfe-
riſche Kraft, der Wille, ſie zu ihrer Vorausſetzung hat. Der
Wille iſt das ſchöpferiſch geſtaltende Organ der Perſönlichkeit,
in der Bethätigung dieſer Schöpferkraft erhebt dieſelbe ſich zur
Gottähnlichkeit. Sich als Schöpfer einer noch ſo kleinen Welt
wiſſen, ſich abſpiegeln in ſeiner Schöpfung als etwas, das vor
ihm nicht da war, das nur ihm gehört, die Objektivirung ſeiner

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0143" n="129"/>
                <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Der Macht- u. Freiheitstrieb. &#x2014; Das Sy&#x017F;tem d. Freiheit &#xA75B;c. §. 30.</fw><lb/>
                <p>Vom niedrig&#x017F;ten Utilitäts-Standpunkte aus betrachtet<lb/>
möchte nun immerhin letztere &#x017F;ich mit er&#x017F;terer me&#x017F;&#x017F;en können,<lb/>
der Wohl&#x017F;tand des Volks, die äußere Ordnung und Moralität<lb/>
u. &#x017F;. w. unter ihr nicht minder gedeihen, als unter jener &#x2014; ob-<lb/>
gleich die Erfahrung bekanntlich das Gegentheil lehrt; denn<lb/>
die Unfreiheit i&#x017F;t nie weder des morali&#x017F;chen noch intellektuellen<lb/>
Schwunges der Freiheit fähig; das Gängelband, in dem &#x017F;ie<lb/>
gehen muß, hindert &#x017F;ie eben &#x017F;o oft an der Bewegung, als es ihr<lb/>
die&#x017F;elbe erleichtert. Aber &#x017F;elb&#x017F;t wenn &#x017F;ie äußerlich glänzendere<lb/>
Re&#x017F;ultate aufzuwei&#x017F;en hätte, als die Freiheit, was würde die&#x017F;er<lb/>
Mehrgewinn bedeuten, wenn er durch eine Einbuße an un&#x017F;chätz-<lb/>
baren innern Gütern und immateriellen Werthen erkauft wer-<lb/>
den müßte, oder wenn die Rechtsidee gegen &#x017F;ie Prote&#x017F;t einlegte?</p><lb/>
                <p>Und beides i&#x017F;t der Fall. Einem Volke, das bisher unter<lb/>
dem Sy&#x017F;tem der Freiheit gelebt hat, werde durch äußere Gewalt<lb/>
das entgegenge&#x017F;etzte aufgedrungen, und die nachtheilig&#x017F;ten Ein-<lb/>
wirkungen auf den Charakter de&#x017F;&#x017F;elben werden nicht ausbleiben<lb/>
können. Die Selb&#x017F;tändigkeit des Volks, &#x017F;ein Selb&#x017F;tvertrauen,<lb/>
&#x017F;ein Unternehmungsgei&#x017F;t, &#x017F;eine Thatkraft werden abnehmen;<lb/>
denn alle die&#x017F;e Eigen&#x017F;chaften haben nur auf dem Boden der Frei-<lb/>
heit ihr rechtes Gedeihen, weil &#x017F;ie nur hier unentbehrlich &#x017F;ind.</p><lb/>
                <p>So wenig man hierüber ein Wort zu verlieren braucht, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr &#x017F;cheint mir der zweite Punkt, das Verhältniß des Sy&#x017F;tems<lb/>
der Unfreiheit zur Rechtsidee, einer nähern Ausführung zu be-<lb/>
dürfen.</p><lb/>
                <p>Die Freiheit als bloßer Zu&#x017F;tand des Nichtbe&#x017F;timmtwerdens<lb/>
hat in die&#x017F;er ihrer bloßen Negativität keine Berechtigung, ge-<lb/>
winnt die&#x017F;elbe vielmehr er&#x017F;t dadurch, daß eine po&#x017F;itiv &#x017F;chöpfe-<lb/>
ri&#x017F;che Kraft, der Wille, &#x017F;ie zu ihrer Voraus&#x017F;etzung hat. Der<lb/>
Wille i&#x017F;t das &#x017F;chöpferi&#x017F;ch ge&#x017F;taltende Organ der Per&#x017F;önlichkeit,<lb/>
in der Bethätigung die&#x017F;er Schöpferkraft erhebt die&#x017F;elbe &#x017F;ich zur<lb/>
Gottähnlichkeit. Sich als Schöpfer einer noch &#x017F;o kleinen Welt<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ich ab&#x017F;piegeln in &#x017F;einer Schöpfung als etwas, das <hi rendition="#g">vor</hi><lb/>
ihm nicht da war, das nur ihm gehört, die Objektivirung &#x017F;einer<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Jhering, Gei&#x017F;t d. röm. Rechts. <hi rendition="#aq">II.</hi> 9</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0143] III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30. Vom niedrigſten Utilitäts-Standpunkte aus betrachtet möchte nun immerhin letztere ſich mit erſterer meſſen können, der Wohlſtand des Volks, die äußere Ordnung und Moralität u. ſ. w. unter ihr nicht minder gedeihen, als unter jener — ob- gleich die Erfahrung bekanntlich das Gegentheil lehrt; denn die Unfreiheit iſt nie weder des moraliſchen noch intellektuellen Schwunges der Freiheit fähig; das Gängelband, in dem ſie gehen muß, hindert ſie eben ſo oft an der Bewegung, als es ihr dieſelbe erleichtert. Aber ſelbſt wenn ſie äußerlich glänzendere Reſultate aufzuweiſen hätte, als die Freiheit, was würde dieſer Mehrgewinn bedeuten, wenn er durch eine Einbuße an unſchätz- baren innern Gütern und immateriellen Werthen erkauft wer- den müßte, oder wenn die Rechtsidee gegen ſie Proteſt einlegte? Und beides iſt der Fall. Einem Volke, das bisher unter dem Syſtem der Freiheit gelebt hat, werde durch äußere Gewalt das entgegengeſetzte aufgedrungen, und die nachtheiligſten Ein- wirkungen auf den Charakter deſſelben werden nicht ausbleiben können. Die Selbſtändigkeit des Volks, ſein Selbſtvertrauen, ſein Unternehmungsgeiſt, ſeine Thatkraft werden abnehmen; denn alle dieſe Eigenſchaften haben nur auf dem Boden der Frei- heit ihr rechtes Gedeihen, weil ſie nur hier unentbehrlich ſind. So wenig man hierüber ein Wort zu verlieren braucht, ſo ſehr ſcheint mir der zweite Punkt, das Verhältniß des Syſtems der Unfreiheit zur Rechtsidee, einer nähern Ausführung zu be- dürfen. Die Freiheit als bloßer Zuſtand des Nichtbeſtimmtwerdens hat in dieſer ihrer bloßen Negativität keine Berechtigung, ge- winnt dieſelbe vielmehr erſt dadurch, daß eine poſitiv ſchöpfe- riſche Kraft, der Wille, ſie zu ihrer Vorausſetzung hat. Der Wille iſt das ſchöpferiſch geſtaltende Organ der Perſönlichkeit, in der Bethätigung dieſer Schöpferkraft erhebt dieſelbe ſich zur Gottähnlichkeit. Sich als Schöpfer einer noch ſo kleinen Welt wiſſen, ſich abſpiegeln in ſeiner Schöpfung als etwas, das vor ihm nicht da war, das nur ihm gehört, die Objektivirung ſeiner Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/143
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/143>, abgerufen am 05.05.2024.