Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
vertiefen, einen Maßstab anlegen sollen, der ihm sonst grund-
sätzlich untersagt ist?! Ich muß gestehen, ich kann mir dies
mit meiner ganzen Auffassung des ältern Rechts nicht reimen.
Wenn der Richter die Zeitfristen berechnet, so mißt er mit
dem abstract-gleichen Maß, und es kümmert ihn das rein In-
dividuelle nichts, wenn er aber das Aequivalent für die schul-
dige Leistung berechnet, so sollte er jenen Maßstab aufgeben
und das Aequivalent mit Rücksicht auf das Interesse dieses be-
stimmten Klägers ermitteln? Hinsichtlich des Gegensatzes zwi-
schen dem tempus continuum und utile wissen wir, daß das
eine Glied desselben der ältern, das andere der spätern Zeit an-
gehört; sollte es mit dem völlig gleichen Gegensatz zwischen der
objektiven und relativen Aestimation eine andere Bewandniß
haben?

Wie will man ihn denn sonst erklären? Und einer Erklä-
rung bedarf er doch, denn eine solche zwiespältige Behandlungs-
weise, so verständlich sie wird, wenn man sie auf den Conflikt
der Rechtsanschauungen verschiedener Zeiten zurückführen kann,
erscheint abgesehn davon höchst befremdend. Man wird sagen:
die Verschiedenheit des Maßstabes hatte ihren Grund in der
Verschiedenheit der Verhältnisse; nach Ansichten des Verkehrs
sei bei gewissen Verhältnissen nach dem Zweck und Bedürfniß
derselben der absolute Maßstab ausreichend erschienen, bei Ver-
hältnissen anderer Art, von anderem Zweck und Inhalt habe
das Verkehrsbedürfniß den relativen Maßstab erfordert. Ich
glaube diesen möglichen Erklärungsversuch als völlig unhaltbar
zurückweisen zu können, und zwar mittelst einer Erscheinung
des ältern Rechts, die ich als das System der indirekten
Befriedigung des Interesses
bezeichnen möchte.

Mit diesem System verhält es sich folgendermaßen. Es gibt
ein bekanntes, höchst brauchbares Mittel zur Erledigung der
Interessenfrage, welches darin besteht, daß der Gläubiger sich
für den Fall der nicht rechtzeitig oder überall nicht erfolgenden
Leistung eine bestimmte Summe vom Schuldner versprechen

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
vertiefen, einen Maßſtab anlegen ſollen, der ihm ſonſt grund-
ſätzlich unterſagt iſt?! Ich muß geſtehen, ich kann mir dies
mit meiner ganzen Auffaſſung des ältern Rechts nicht reimen.
Wenn der Richter die Zeitfriſten berechnet, ſo mißt er mit
dem abſtract-gleichen Maß, und es kümmert ihn das rein In-
dividuelle nichts, wenn er aber das Aequivalent für die ſchul-
dige Leiſtung berechnet, ſo ſollte er jenen Maßſtab aufgeben
und das Aequivalent mit Rückſicht auf das Intereſſe dieſes be-
ſtimmten Klägers ermitteln? Hinſichtlich des Gegenſatzes zwi-
ſchen dem tempus continuum und utile wiſſen wir, daß das
eine Glied deſſelben der ältern, das andere der ſpätern Zeit an-
gehört; ſollte es mit dem völlig gleichen Gegenſatz zwiſchen der
objektiven und relativen Aeſtimation eine andere Bewandniß
haben?

Wie will man ihn denn ſonſt erklären? Und einer Erklä-
rung bedarf er doch, denn eine ſolche zwieſpältige Behandlungs-
weiſe, ſo verſtändlich ſie wird, wenn man ſie auf den Conflikt
der Rechtsanſchauungen verſchiedener Zeiten zurückführen kann,
erſcheint abgeſehn davon höchſt befremdend. Man wird ſagen:
die Verſchiedenheit des Maßſtabes hatte ihren Grund in der
Verſchiedenheit der Verhältniſſe; nach Anſichten des Verkehrs
ſei bei gewiſſen Verhältniſſen nach dem Zweck und Bedürfniß
derſelben der abſolute Maßſtab ausreichend erſchienen, bei Ver-
hältniſſen anderer Art, von anderem Zweck und Inhalt habe
das Verkehrsbedürfniß den relativen Maßſtab erfordert. Ich
glaube dieſen möglichen Erklärungsverſuch als völlig unhaltbar
zurückweiſen zu können, und zwar mittelſt einer Erſcheinung
des ältern Rechts, die ich als das Syſtem der indirekten
Befriedigung des Intereſſes
bezeichnen möchte.

Mit dieſem Syſtem verhält es ſich folgendermaßen. Es gibt
ein bekanntes, höchſt brauchbares Mittel zur Erledigung der
Intereſſenfrage, welches darin beſteht, daß der Gläubiger ſich
für den Fall der nicht rechtzeitig oder überall nicht erfolgenden
Leiſtung eine beſtimmte Summe vom Schuldner verſprechen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0126" n="112"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/>
vertiefen, einen Maß&#x017F;tab anlegen &#x017F;ollen, der ihm &#x017F;on&#x017F;t grund-<lb/>
&#x017F;ätzlich unter&#x017F;agt i&#x017F;t?! Ich muß ge&#x017F;tehen, ich kann mir dies<lb/>
mit meiner ganzen Auffa&#x017F;&#x017F;ung des ältern Rechts nicht reimen.<lb/>
Wenn der Richter die Zeitfri&#x017F;ten berechnet, &#x017F;o mißt er mit<lb/>
dem ab&#x017F;tract-gleichen Maß, und es kümmert ihn das rein In-<lb/>
dividuelle nichts, wenn er aber das Aequivalent für die &#x017F;chul-<lb/>
dige Lei&#x017F;tung berechnet, &#x017F;o &#x017F;ollte er jenen Maß&#x017F;tab aufgeben<lb/>
und das Aequivalent mit Rück&#x017F;icht auf das Intere&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;es be-<lb/>
&#x017F;timmten Klägers ermitteln? Hin&#x017F;ichtlich des Gegen&#x017F;atzes zwi-<lb/>
&#x017F;chen dem <hi rendition="#aq">tempus continuum</hi> und <hi rendition="#aq">utile</hi> wi&#x017F;&#x017F;en wir, daß das<lb/>
eine Glied de&#x017F;&#x017F;elben der ältern, das andere der &#x017F;pätern Zeit an-<lb/>
gehört; &#x017F;ollte es mit dem völlig gleichen Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen der<lb/>
objektiven und relativen Ae&#x017F;timation eine andere Bewandniß<lb/>
haben?</p><lb/>
                <p>Wie will man ihn denn &#x017F;on&#x017F;t erklären? Und einer Erklä-<lb/>
rung bedarf er doch, denn eine &#x017F;olche zwie&#x017F;pältige Behandlungs-<lb/>
wei&#x017F;e, &#x017F;o ver&#x017F;tändlich &#x017F;ie wird, wenn man &#x017F;ie auf den Conflikt<lb/>
der Rechtsan&#x017F;chauungen ver&#x017F;chiedener Zeiten zurückführen kann,<lb/>
er&#x017F;cheint abge&#x017F;ehn davon höch&#x017F;t befremdend. Man wird &#x017F;agen:<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit des Maß&#x017F;tabes hatte ihren Grund in der<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheit der Verhältni&#x017F;&#x017F;e; nach An&#x017F;ichten des Verkehrs<lb/>
&#x017F;ei bei gewi&#x017F;&#x017F;en Verhältni&#x017F;&#x017F;en nach dem Zweck und Bedürfniß<lb/>
der&#x017F;elben der ab&#x017F;olute Maß&#x017F;tab ausreichend er&#x017F;chienen, bei Ver-<lb/>
hältni&#x017F;&#x017F;en anderer Art, von anderem Zweck und Inhalt habe<lb/>
das Verkehrsbedürfniß den relativen Maß&#x017F;tab erfordert. Ich<lb/>
glaube die&#x017F;en möglichen Erklärungsver&#x017F;uch als völlig unhaltbar<lb/>
zurückwei&#x017F;en zu können, und zwar mittel&#x017F;t einer Er&#x017F;cheinung<lb/>
des ältern Rechts, die ich als das <hi rendition="#g">Sy&#x017F;tem der indirekten<lb/>
Befriedigung des Intere&#x017F;&#x017F;es</hi> bezeichnen möchte.</p><lb/>
                <p>Mit die&#x017F;em Sy&#x017F;tem verhält es &#x017F;ich folgendermaßen. Es gibt<lb/>
ein bekanntes, höch&#x017F;t brauchbares Mittel zur Erledigung der<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;enfrage, welches darin be&#x017F;teht, daß der Gläubiger &#x017F;ich<lb/>
für den Fall der nicht rechtzeitig oder überall nicht erfolgenden<lb/>
Lei&#x017F;tung eine be&#x017F;timmte Summe vom Schuldner ver&#x017F;prechen<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0126] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. vertiefen, einen Maßſtab anlegen ſollen, der ihm ſonſt grund- ſätzlich unterſagt iſt?! Ich muß geſtehen, ich kann mir dies mit meiner ganzen Auffaſſung des ältern Rechts nicht reimen. Wenn der Richter die Zeitfriſten berechnet, ſo mißt er mit dem abſtract-gleichen Maß, und es kümmert ihn das rein In- dividuelle nichts, wenn er aber das Aequivalent für die ſchul- dige Leiſtung berechnet, ſo ſollte er jenen Maßſtab aufgeben und das Aequivalent mit Rückſicht auf das Intereſſe dieſes be- ſtimmten Klägers ermitteln? Hinſichtlich des Gegenſatzes zwi- ſchen dem tempus continuum und utile wiſſen wir, daß das eine Glied deſſelben der ältern, das andere der ſpätern Zeit an- gehört; ſollte es mit dem völlig gleichen Gegenſatz zwiſchen der objektiven und relativen Aeſtimation eine andere Bewandniß haben? Wie will man ihn denn ſonſt erklären? Und einer Erklä- rung bedarf er doch, denn eine ſolche zwieſpältige Behandlungs- weiſe, ſo verſtändlich ſie wird, wenn man ſie auf den Conflikt der Rechtsanſchauungen verſchiedener Zeiten zurückführen kann, erſcheint abgeſehn davon höchſt befremdend. Man wird ſagen: die Verſchiedenheit des Maßſtabes hatte ihren Grund in der Verſchiedenheit der Verhältniſſe; nach Anſichten des Verkehrs ſei bei gewiſſen Verhältniſſen nach dem Zweck und Bedürfniß derſelben der abſolute Maßſtab ausreichend erſchienen, bei Ver- hältniſſen anderer Art, von anderem Zweck und Inhalt habe das Verkehrsbedürfniß den relativen Maßſtab erfordert. Ich glaube dieſen möglichen Erklärungsverſuch als völlig unhaltbar zurückweiſen zu können, und zwar mittelſt einer Erſcheinung des ältern Rechts, die ich als das Syſtem der indirekten Befriedigung des Intereſſes bezeichnen möchte. Mit dieſem Syſtem verhält es ſich folgendermaßen. Es gibt ein bekanntes, höchſt brauchbares Mittel zur Erledigung der Intereſſenfrage, welches darin beſteht, daß der Gläubiger ſich für den Fall der nicht rechtzeitig oder überall nicht erfolgenden Leiſtung eine beſtimmte Summe vom Schuldner verſprechen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/126
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/126>, abgerufen am 22.11.2024.