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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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II. Der Gleichheitstrieb. -- Objektive Aestimation. §. 29.
lediglich auf den nächst getroffenen Punkt, und die Rückwirkung
dieses Punktes auf das ganze Vermögen -- gerade der Umstand,
der eine Verschiedenheit des Schadens in den einzelnen Fällen
begründen könnte -- ist für sie völlig gleichgültig. Die relative
Aestimation hingegen verfolgt die Schwingungen der in Frage
stehenden Thatsache innerhalb dieses bestimmten Vermögens,
und je nach den besondern Voraussetzungen reichen diese oft
weiter, oft weniger weit.

Dieser Gegensatz, der in der Natur der Sache begründet ist,
ist auch im römischen Recht anerkannt; gewisse Verhältnisse
gehen auf ein "certum" (ein ganz bezeichnender Ausdruck für
objektive Aestimation), gewisse auf ein incertum (relative Aesti-
mation). Meiner festen Ueberzeugung nach gehört dieser Gegen-
satz aber noch nicht dem ältern Recht an, sondern letzteres hat
lediglich die objektive Aestimation gekannt, und die relative ist
erst mit dem dritten System aufgekommen. Da diese Behaup-
tung auf großen Widerspruch stoßen dürfte, und sie mir doch für
die Charakteristik des ältern Rechts von großer Wichtigkeit ist,
so bin ich gezwungen, sie ausführlich zu rechtfertigen. Der Ver-
such der Rechtfertigung wird uns, wie man über das Resultat
desselben auch denken möge, jedenfalls bei charakteristischen,
hierher gehörigen Erscheinungen des ältern Rechts vorbeiführen,
und dürfte also auch im schlimmsten Fall nicht ohne Nutzen sein.

Es ist ersichtlich, wie sehr die absolute Aestimation der gan-
zen Tendenz des ältern Rechts, die relative der des neuern ent-
spricht. Letztere, in das ältere Recht hineinversetzt, würde hier
eine ganz fremdartige, völlig isolirte Erscheinung sein, würde
hier einen Boden vorfinden, auf dem sie nicht gedeihen könnte,
eine Umgebung, mit der sie im Widerspruch stände. Ein römi-
scher Richter der ältern Zeit, im übrigen so ganz und gar auf
die schablonenmäßige Anwendung des Rechts hingewiesen, der
Berücksichtigung des individuellen Moments in den Rechtsver-
hältnissen so völlig ungewohnt und unzugänglich, hätte sich hier
in das krause Gewirr rein individueller Vermögensbeziehungen

II. Der Gleichheitstrieb. — Objektive Aeſtimation. §. 29.
lediglich auf den nächſt getroffenen Punkt, und die Rückwirkung
dieſes Punktes auf das ganze Vermögen — gerade der Umſtand,
der eine Verſchiedenheit des Schadens in den einzelnen Fällen
begründen könnte — iſt für ſie völlig gleichgültig. Die relative
Aeſtimation hingegen verfolgt die Schwingungen der in Frage
ſtehenden Thatſache innerhalb dieſes beſtimmten Vermögens,
und je nach den beſondern Vorausſetzungen reichen dieſe oft
weiter, oft weniger weit.

Dieſer Gegenſatz, der in der Natur der Sache begründet iſt,
iſt auch im römiſchen Recht anerkannt; gewiſſe Verhältniſſe
gehen auf ein „certum“ (ein ganz bezeichnender Ausdruck für
objektive Aeſtimation), gewiſſe auf ein incertum (relative Aeſti-
mation). Meiner feſten Ueberzeugung nach gehört dieſer Gegen-
ſatz aber noch nicht dem ältern Recht an, ſondern letzteres hat
lediglich die objektive Aeſtimation gekannt, und die relative iſt
erſt mit dem dritten Syſtem aufgekommen. Da dieſe Behaup-
tung auf großen Widerſpruch ſtoßen dürfte, und ſie mir doch für
die Charakteriſtik des ältern Rechts von großer Wichtigkeit iſt,
ſo bin ich gezwungen, ſie ausführlich zu rechtfertigen. Der Ver-
ſuch der Rechtfertigung wird uns, wie man über das Reſultat
deſſelben auch denken möge, jedenfalls bei charakteriſtiſchen,
hierher gehörigen Erſcheinungen des ältern Rechts vorbeiführen,
und dürfte alſo auch im ſchlimmſten Fall nicht ohne Nutzen ſein.

Es iſt erſichtlich, wie ſehr die abſolute Aeſtimation der gan-
zen Tendenz des ältern Rechts, die relative der des neuern ent-
ſpricht. Letztere, in das ältere Recht hineinverſetzt, würde hier
eine ganz fremdartige, völlig iſolirte Erſcheinung ſein, würde
hier einen Boden vorfinden, auf dem ſie nicht gedeihen könnte,
eine Umgebung, mit der ſie im Widerſpruch ſtände. Ein römi-
ſcher Richter der ältern Zeit, im übrigen ſo ganz und gar auf
die ſchablonenmäßige Anwendung des Rechts hingewieſen, der
Berückſichtigung des individuellen Moments in den Rechtsver-
hältniſſen ſo völlig ungewohnt und unzugänglich, hätte ſich hier
in das krauſe Gewirr rein individueller Vermögensbeziehungen

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[111/0125] II. Der Gleichheitstrieb. — Objektive Aeſtimation. §. 29. lediglich auf den nächſt getroffenen Punkt, und die Rückwirkung dieſes Punktes auf das ganze Vermögen — gerade der Umſtand, der eine Verſchiedenheit des Schadens in den einzelnen Fällen begründen könnte — iſt für ſie völlig gleichgültig. Die relative Aeſtimation hingegen verfolgt die Schwingungen der in Frage ſtehenden Thatſache innerhalb dieſes beſtimmten Vermögens, und je nach den beſondern Vorausſetzungen reichen dieſe oft weiter, oft weniger weit. Dieſer Gegenſatz, der in der Natur der Sache begründet iſt, iſt auch im römiſchen Recht anerkannt; gewiſſe Verhältniſſe gehen auf ein „certum“ (ein ganz bezeichnender Ausdruck für objektive Aeſtimation), gewiſſe auf ein incertum (relative Aeſti- mation). Meiner feſten Ueberzeugung nach gehört dieſer Gegen- ſatz aber noch nicht dem ältern Recht an, ſondern letzteres hat lediglich die objektive Aeſtimation gekannt, und die relative iſt erſt mit dem dritten Syſtem aufgekommen. Da dieſe Behaup- tung auf großen Widerſpruch ſtoßen dürfte, und ſie mir doch für die Charakteriſtik des ältern Rechts von großer Wichtigkeit iſt, ſo bin ich gezwungen, ſie ausführlich zu rechtfertigen. Der Ver- ſuch der Rechtfertigung wird uns, wie man über das Reſultat deſſelben auch denken möge, jedenfalls bei charakteriſtiſchen, hierher gehörigen Erſcheinungen des ältern Rechts vorbeiführen, und dürfte alſo auch im ſchlimmſten Fall nicht ohne Nutzen ſein. Es iſt erſichtlich, wie ſehr die abſolute Aeſtimation der gan- zen Tendenz des ältern Rechts, die relative der des neuern ent- ſpricht. Letztere, in das ältere Recht hineinverſetzt, würde hier eine ganz fremdartige, völlig iſolirte Erſcheinung ſein, würde hier einen Boden vorfinden, auf dem ſie nicht gedeihen könnte, eine Umgebung, mit der ſie im Widerſpruch ſtände. Ein römi- ſcher Richter der ältern Zeit, im übrigen ſo ganz und gar auf die ſchablonenmäßige Anwendung des Rechts hingewieſen, der Berückſichtigung des individuellen Moments in den Rechtsver- hältniſſen ſo völlig ungewohnt und unzugänglich, hätte ſich hier in das krauſe Gewirr rein individueller Vermögensbeziehungen

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/125>, abgerufen am 22.11.2024.