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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Theils nämlich half der Prätor hinsichtlich ihrer im Falle ent-
schuldbarer Versäumniß, z. B. wegen nothwendiger Abwesen-
heit, durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, theils hielt
der Prätor im Geiste der neuern Rechtsbildung sich für ermäch-
tigt, die alten Fristen von vornherein je nach Umständen zu er-
weitern oder zu verengern. 117)

Ein anderes und zwar viel umfassenderes Gebiet, auf dem
sich meiner Ansicht nach die Differenz des ältern und neuern
Rechts in hohem Maße bethätigt hat, ist das System des Scha-
densersatzes und Interesses (der richterlichen litis aestimatio).
Der Gegensatz der abstracten Gleichheitstendenz und der indivi-
dualisirenden Behandlungsweise äußert sich auf diesem Gebiete
als der der objektiven oder absoluten und subjektiven oder
relativen Aestimation (Interesse). Das heißt, eine schuldige
Leistung oder ein Schaden läßt sich entweder rein nach dem ob-
jektiven Geldwerth des geschuldeten, beschädigten, vernichteten 118)
Objekts taxiren, so daß also die rein individuellen Momente
dieses bestimmten Forderungs verhältnisses gar nicht mit in
Rechnung kommen, oder umgekehrt letztere bilden den Maßstab
der Beurtheilung, so daß also der relative Werth einer Leistung
von diesem Beklagten an jenen Kläger, die nachtheilige Ein-
wirkung der unterbliebenen Leistung oder des begangenen De-
likts auf dieses bestimmte Vermögen ermittelt werden muß.
Die objektive Aestimation gelangt stets zu demselben Resultat,
möge der Gläubiger dieser oder jener sein; sie beschränkt sich ja

117) z. B. hinsichtlich der Execution. Recht der XII Tafeln: Gellius
Lib. 20 c.
1 (30 und 60 Tage), neueres Recht: Ulpian. in L. 2 de re jud.
(42. 1): qui pro Tribunali cognoscit, non semper tempus judicati servat,
sed nonnumquam arctat, nonnumquam prorogat pro causae quali-
tate et quantitate vel personarum obsequio vel con-
tumacia
.
118) Bei Beschädigungen der objektive Betrag derselben d. h. die Dif-
ferenz im Preise der Sache vor und nach der That. Bei der act. quanti mi-
noris
tritt eine ähnliche Differenzberechnung ein.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Theils nämlich half der Prätor hinſichtlich ihrer im Falle ent-
ſchuldbarer Verſäumniß, z. B. wegen nothwendiger Abweſen-
heit, durch Wiedereinſetzung in den vorigen Stand, theils hielt
der Prätor im Geiſte der neuern Rechtsbildung ſich für ermäch-
tigt, die alten Friſten von vornherein je nach Umſtänden zu er-
weitern oder zu verengern. 117)

Ein anderes und zwar viel umfaſſenderes Gebiet, auf dem
ſich meiner Anſicht nach die Differenz des ältern und neuern
Rechts in hohem Maße bethätigt hat, iſt das Syſtem des Scha-
denserſatzes und Intereſſes (der richterlichen litis aestimatio).
Der Gegenſatz der abſtracten Gleichheitstendenz und der indivi-
dualiſirenden Behandlungsweiſe äußert ſich auf dieſem Gebiete
als der der objektiven oder abſoluten und ſubjektiven oder
relativen Aeſtimation (Intereſſe). Das heißt, eine ſchuldige
Leiſtung oder ein Schaden läßt ſich entweder rein nach dem ob-
jektiven Geldwerth des geſchuldeten, beſchädigten, vernichteten 118)
Objekts taxiren, ſo daß alſo die rein individuellen Momente
dieſes beſtimmten Forderungs verhältniſſes gar nicht mit in
Rechnung kommen, oder umgekehrt letztere bilden den Maßſtab
der Beurtheilung, ſo daß alſo der relative Werth einer Leiſtung
von dieſem Beklagten an jenen Kläger, die nachtheilige Ein-
wirkung der unterbliebenen Leiſtung oder des begangenen De-
likts auf dieſes beſtimmte Vermögen ermittelt werden muß.
Die objektive Aeſtimation gelangt ſtets zu demſelben Reſultat,
möge der Gläubiger dieſer oder jener ſein; ſie beſchränkt ſich ja

117) z. B. hinſichtlich der Execution. Recht der XII Tafeln: Gellius
Lib. 20 c.
1 (30 und 60 Tage), neueres Recht: Ulpian. in L. 2 de re jud.
(42. 1): qui pro Tribunali cognoscit, non semper tempus judicati servat,
sed nonnumquam arctat, nonnumquam prorogat pro causae quali-
tate et quantitate vel personarum obsequio vel con-
tumacia
.
118) Bei Beſchädigungen der objektive Betrag derſelben d. h. die Dif-
ferenz im Preiſe der Sache vor und nach der That. Bei der act. quanti mi-
noris
tritt eine ähnliche Differenzberechnung ein.
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[110/0124] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Theils nämlich half der Prätor hinſichtlich ihrer im Falle ent- ſchuldbarer Verſäumniß, z. B. wegen nothwendiger Abweſen- heit, durch Wiedereinſetzung in den vorigen Stand, theils hielt der Prätor im Geiſte der neuern Rechtsbildung ſich für ermäch- tigt, die alten Friſten von vornherein je nach Umſtänden zu er- weitern oder zu verengern. 117) Ein anderes und zwar viel umfaſſenderes Gebiet, auf dem ſich meiner Anſicht nach die Differenz des ältern und neuern Rechts in hohem Maße bethätigt hat, iſt das Syſtem des Scha- denserſatzes und Intereſſes (der richterlichen litis aestimatio). Der Gegenſatz der abſtracten Gleichheitstendenz und der indivi- dualiſirenden Behandlungsweiſe äußert ſich auf dieſem Gebiete als der der objektiven oder abſoluten und ſubjektiven oder relativen Aeſtimation (Intereſſe). Das heißt, eine ſchuldige Leiſtung oder ein Schaden läßt ſich entweder rein nach dem ob- jektiven Geldwerth des geſchuldeten, beſchädigten, vernichteten 118) Objekts taxiren, ſo daß alſo die rein individuellen Momente dieſes beſtimmten Forderungs verhältniſſes gar nicht mit in Rechnung kommen, oder umgekehrt letztere bilden den Maßſtab der Beurtheilung, ſo daß alſo der relative Werth einer Leiſtung von dieſem Beklagten an jenen Kläger, die nachtheilige Ein- wirkung der unterbliebenen Leiſtung oder des begangenen De- likts auf dieſes beſtimmte Vermögen ermittelt werden muß. Die objektive Aeſtimation gelangt ſtets zu demſelben Reſultat, möge der Gläubiger dieſer oder jener ſein; ſie beſchränkt ſich ja 117) z. B. hinſichtlich der Execution. Recht der XII Tafeln: Gellius Lib. 20 c. 1 (30 und 60 Tage), neueres Recht: Ulpian. in L. 2 de re jud. (42. 1): qui pro Tribunali cognoscit, non semper tempus judicati servat, sed nonnumquam arctat, nonnumquam prorogat pro causae quali- tate et quantitate vel personarum obsequio vel con- tumacia. 118) Bei Beſchädigungen der objektive Betrag derſelben d. h. die Dif- ferenz im Preiſe der Sache vor und nach der That. Bei der act. quanti mi- noris tritt eine ähnliche Differenzberechnung ein.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/124>, abgerufen am 23.11.2024.