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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Die drei Systeme. §. 6.
nichts halbes, nichts unbestimmtes, nichts zusammengesetztes
und übergangsartiges, nichts mildes und zartes, sondern alles
entweder ganz -- oder gar nicht vorhanden; kenntlich bis zur Un-
möglichkeit eines Mißgriffes, einfach und aus einem Gedanken
heraus gearbeitet, aber dieser mit unerbittlicher und grausamer
Consequenz durchgeführt. Dies Recht macht den Eindruck einer
durch ihre ingeniöse Einfachheit großartigen Maschine. Sie
arbeitet eben wegen ihrer Einfachheit mit der größten Sicher-
heit
und Gleichmäßigkeit, aber wehe dem Unvorsichtigen,
der ihre Handhabung nicht versteht und ihr zu nahe kömmt:
ihre eisernen Räder zermalmen ihn. Jene Gleichmäßigkeit be-
ruht freilich zugleich auf einer Unvollkommenheit; es gibt keine
Vorrichtung, die Maschine zu stellen, sie producirt immer nur
dieselben sich aufs Haar gleichenden Stücke d. h. das Recht ist
außer Stand sich den individuellen Zuständen und Bedürfnissen
anzuschmiegen, die Gleichheit, die es erstrebt und bewirkt, ist
eine rein mechanische, äußerliche, jene, von der es heißt: Sum-
mum jus, summa injuria.
Nichts thut das Recht von selbst,
sondern es wartet darauf, daß es durch den, der seiner bedarf,
in Bewegung gesetzt werde, und zu dem Zweck ist nöthig, daß
letzterer die Kraft und Geschicklichkeit dazu besitze und selbst mit-
handle
. Thut er dies, so garantirt das Recht ihm anderer-
seits die höchste Sicherheit des Erfolges, denn der Erfolg, die
Anwendung des Rechts läßt sich so bestimmt und leicht berech-
nen, wie ein einfaches mathematisches Exempel; das Resultat
desselben aber ist unumstößlich.

Der Gedanke, von dem das ganze Privatrecht durchdrungen
ist, ist der der Autonomie des Individuums, die Idee, daß das
individuelle Recht nicht dem Staat seine Existenz verdankt,
sondern aus eigner Machtvollkommenheit existirt, seine Berech-
tigung in sich selber trägt. Das privatrechtliche Prinzip ist in
den rechtlichen Abstractionen so auf die Spitze getrieben, daß
es dem Staatsprinzip Hohn zu sprechen und der Gedanke der
subjektiven Willensfreiheit sich zur Entfesselung der reinen sub-

Die drei Syſteme. §. 6.
nichts halbes, nichts unbeſtimmtes, nichts zuſammengeſetztes
und übergangsartiges, nichts mildes und zartes, ſondern alles
entweder ganz — oder gar nicht vorhanden; kenntlich bis zur Un-
möglichkeit eines Mißgriffes, einfach und aus einem Gedanken
heraus gearbeitet, aber dieſer mit unerbittlicher und grauſamer
Conſequenz durchgeführt. Dies Recht macht den Eindruck einer
durch ihre ingeniöſe Einfachheit großartigen Maſchine. Sie
arbeitet eben wegen ihrer Einfachheit mit der größten Sicher-
heit
und Gleichmäßigkeit, aber wehe dem Unvorſichtigen,
der ihre Handhabung nicht verſteht und ihr zu nahe kömmt:
ihre eiſernen Räder zermalmen ihn. Jene Gleichmäßigkeit be-
ruht freilich zugleich auf einer Unvollkommenheit; es gibt keine
Vorrichtung, die Maſchine zu ſtellen, ſie producirt immer nur
dieſelben ſich aufs Haar gleichenden Stücke d. h. das Recht iſt
außer Stand ſich den individuellen Zuſtänden und Bedürfniſſen
anzuſchmiegen, die Gleichheit, die es erſtrebt und bewirkt, iſt
eine rein mechaniſche, äußerliche, jene, von der es heißt: Sum-
mum jus, summa injuria.
Nichts thut das Recht von ſelbſt,
ſondern es wartet darauf, daß es durch den, der ſeiner bedarf,
in Bewegung geſetzt werde, und zu dem Zweck iſt nöthig, daß
letzterer die Kraft und Geſchicklichkeit dazu beſitze und ſelbſt mit-
handle
. Thut er dies, ſo garantirt das Recht ihm anderer-
ſeits die höchſte Sicherheit des Erfolges, denn der Erfolg, die
Anwendung des Rechts läßt ſich ſo beſtimmt und leicht berech-
nen, wie ein einfaches mathematiſches Exempel; das Reſultat
deſſelben aber iſt unumſtößlich.

Der Gedanke, von dem das ganze Privatrecht durchdrungen
iſt, iſt der der Autonomie des Individuums, die Idee, daß das
individuelle Recht nicht dem Staat ſeine Exiſtenz verdankt,
ſondern aus eigner Machtvollkommenheit exiſtirt, ſeine Berech-
tigung in ſich ſelber trägt. Das privatrechtliche Prinzip iſt in
den rechtlichen Abſtractionen ſo auf die Spitze getrieben, daß
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[79/0097] Die drei Syſteme. §. 6. nichts halbes, nichts unbeſtimmtes, nichts zuſammengeſetztes und übergangsartiges, nichts mildes und zartes, ſondern alles entweder ganz — oder gar nicht vorhanden; kenntlich bis zur Un- möglichkeit eines Mißgriffes, einfach und aus einem Gedanken heraus gearbeitet, aber dieſer mit unerbittlicher und grauſamer Conſequenz durchgeführt. Dies Recht macht den Eindruck einer durch ihre ingeniöſe Einfachheit großartigen Maſchine. Sie arbeitet eben wegen ihrer Einfachheit mit der größten Sicher- heit und Gleichmäßigkeit, aber wehe dem Unvorſichtigen, der ihre Handhabung nicht verſteht und ihr zu nahe kömmt: ihre eiſernen Räder zermalmen ihn. Jene Gleichmäßigkeit be- ruht freilich zugleich auf einer Unvollkommenheit; es gibt keine Vorrichtung, die Maſchine zu ſtellen, ſie producirt immer nur dieſelben ſich aufs Haar gleichenden Stücke d. h. das Recht iſt außer Stand ſich den individuellen Zuſtänden und Bedürfniſſen anzuſchmiegen, die Gleichheit, die es erſtrebt und bewirkt, iſt eine rein mechaniſche, äußerliche, jene, von der es heißt: Sum- mum jus, summa injuria. Nichts thut das Recht von ſelbſt, ſondern es wartet darauf, daß es durch den, der ſeiner bedarf, in Bewegung geſetzt werde, und zu dem Zweck iſt nöthig, daß letzterer die Kraft und Geſchicklichkeit dazu beſitze und ſelbſt mit- handle. Thut er dies, ſo garantirt das Recht ihm anderer- ſeits die höchſte Sicherheit des Erfolges, denn der Erfolg, die Anwendung des Rechts läßt ſich ſo beſtimmt und leicht berech- nen, wie ein einfaches mathematiſches Exempel; das Reſultat deſſelben aber iſt unumſtößlich. Der Gedanke, von dem das ganze Privatrecht durchdrungen iſt, iſt der der Autonomie des Individuums, die Idee, daß das individuelle Recht nicht dem Staat ſeine Exiſtenz verdankt, ſondern aus eigner Machtvollkommenheit exiſtirt, ſeine Berech- tigung in ſich ſelber trägt. Das privatrechtliche Prinzip iſt in den rechtlichen Abſtractionen ſo auf die Spitze getrieben, daß es dem Staatsprinzip Hohn zu ſprechen und der Gedanke der ſubjektiven Willensfreiheit ſich zur Entfeſſelung der reinen ſub-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/97>, abgerufen am 24.11.2024.