Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.Psychische Organisation des Rechts. §. 3. doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, soerhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt und aus der Atmosphäre, in der es wächst, unmerklich die Ele- mente seines Lebens. Während es geschieht, sieht unser stumpfes Auge es nicht, aber nachdem es geschehen, kommen wir durch die Wirkung zur Erkenntniß der Ursache. Und wie manches, das wir sehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig, noch in den ersten Anfängen der Entwicklung begriffen ist, wäh- rend sich das Verständniß desselben dem spätern Beobachter, der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückschaut, leicht erschließt. Wenn das gesagte nun selbst für das vorgerückte Lebens- Der Historiker findet hier also ein fruchtbares Feld für seine Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3. doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, ſoerhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt und aus der Atmoſphäre, in der es wächſt, unmerklich die Ele- mente ſeines Lebens. Während es geſchieht, ſieht unſer ſtumpfes Auge es nicht, aber nachdem es geſchehen, kommen wir durch die Wirkung zur Erkenntniß der Urſache. Und wie manches, das wir ſehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig, noch in den erſten Anfängen der Entwicklung begriffen iſt, wäh- rend ſich das Verſtändniß deſſelben dem ſpätern Beobachter, der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückſchaut, leicht erſchließt. Wenn das geſagte nun ſelbſt für das vorgerückte Lebens- Der Hiſtoriker findet hier alſo ein fruchtbares Feld für ſeine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0055" n="37"/><fw place="top" type="header">Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.</fw><lb/> doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, ſo<lb/> erhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt<lb/> und aus der Atmoſphäre, in der es wächſt, unmerklich die Ele-<lb/> mente ſeines Lebens. Während es geſchieht, ſieht unſer ſtumpfes<lb/> Auge es nicht, aber nachdem es geſchehen, kommen wir durch<lb/> die Wirkung zur Erkenntniß der Urſache. Und wie manches,<lb/> das wir ſehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig,<lb/> noch in den erſten Anfängen der Entwicklung begriffen iſt, wäh-<lb/> rend ſich das Verſtändniß deſſelben dem ſpätern Beobachter,<lb/> der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückſchaut, leicht<lb/> erſchließt.</p><lb/> <p>Wenn das geſagte nun ſelbſt für das vorgerückte Lebens-<lb/> alter der Völker gilt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß es auf<lb/> die Jugend- und Kindheit-Zeit derſelben in einem weit höheren<lb/> Grade Anwendung findet. Dem Hiſtoriker kann es vielleicht<lb/> mit leichter Mühe gelingen, ihrem ganzen Ringen und Streben<lb/> die richtige Deutung zu geben, und ihnen ſelbſt blieb daſſelbe<lb/> ein Räthſel. Aus jedem Rechtsinſtitute können gewiſſe nationale<lb/> Grundanſchauungen uns entgegentreten, aber das Volk ſelbſt,<lb/> das von ihnen erfüllt war, ſah ſie nicht oder nur im Halbdun-<lb/> kel des Gefühls und der Ahnung. Denn das iſt freilich nicht<lb/> ſelten, daß dieſe unausgeſprochenen Gedanken, für die der Be-<lb/> griff noch fehlte, in der Mythe, der Etymologie und Symbo-<lb/> lik u. ſ. w. in geheimnißvoller, verſchleierter Weiſe ſich einen<lb/> Ausdruck verſchafft haben. Der träumende Genius des Volks<lb/> hat hier in naiver Weiſe ein Selbſtgeſtändniß abgelegt, deſſen<lb/> er im wachenden Zuſtande ſich nicht bewußt iſt.</p><lb/> <p>Der Hiſtoriker findet hier alſo ein fruchtbares Feld für ſeine<lb/> Thätigkeit vor, aber verhehlen wir es uns nicht, zugleich ein<lb/> ſehr ſchlüpfriges. Je weiter er auf demſelben vorzudringen, je<lb/> mehr er ſich der Werkſtätte der Geſchichte zu nahen ſucht, um ſo<lb/> nebelhafter, verſchwimmender werden die Geſtalten, die ihm<lb/> begegnen, um ſo mehr ſtellen ſich ſtatt der Geiſter, die er ver-<lb/> folgt, Irrlichter ein, die ihn vom wahren Wege abzuleiten drohen.<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [37/0055]
Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.
doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, ſo
erhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt
und aus der Atmoſphäre, in der es wächſt, unmerklich die Ele-
mente ſeines Lebens. Während es geſchieht, ſieht unſer ſtumpfes
Auge es nicht, aber nachdem es geſchehen, kommen wir durch
die Wirkung zur Erkenntniß der Urſache. Und wie manches,
das wir ſehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig,
noch in den erſten Anfängen der Entwicklung begriffen iſt, wäh-
rend ſich das Verſtändniß deſſelben dem ſpätern Beobachter,
der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückſchaut, leicht
erſchließt.
Wenn das geſagte nun ſelbſt für das vorgerückte Lebens-
alter der Völker gilt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß es auf
die Jugend- und Kindheit-Zeit derſelben in einem weit höheren
Grade Anwendung findet. Dem Hiſtoriker kann es vielleicht
mit leichter Mühe gelingen, ihrem ganzen Ringen und Streben
die richtige Deutung zu geben, und ihnen ſelbſt blieb daſſelbe
ein Räthſel. Aus jedem Rechtsinſtitute können gewiſſe nationale
Grundanſchauungen uns entgegentreten, aber das Volk ſelbſt,
das von ihnen erfüllt war, ſah ſie nicht oder nur im Halbdun-
kel des Gefühls und der Ahnung. Denn das iſt freilich nicht
ſelten, daß dieſe unausgeſprochenen Gedanken, für die der Be-
griff noch fehlte, in der Mythe, der Etymologie und Symbo-
lik u. ſ. w. in geheimnißvoller, verſchleierter Weiſe ſich einen
Ausdruck verſchafft haben. Der träumende Genius des Volks
hat hier in naiver Weiſe ein Selbſtgeſtändniß abgelegt, deſſen
er im wachenden Zuſtande ſich nicht bewußt iſt.
Der Hiſtoriker findet hier alſo ein fruchtbares Feld für ſeine
Thätigkeit vor, aber verhehlen wir es uns nicht, zugleich ein
ſehr ſchlüpfriges. Je weiter er auf demſelben vorzudringen, je
mehr er ſich der Werkſtätte der Geſchichte zu nahen ſucht, um ſo
nebelhafter, verſchwimmender werden die Geſtalten, die ihm
begegnen, um ſo mehr ſtellen ſich ſtatt der Geiſter, die er ver-
folgt, Irrlichter ein, die ihn vom wahren Wege abzuleiten drohen.
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