Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.1. Prädestination des röm. Geistes zur Cultur des Rechts. §. 20. so hohen Grade gelang. In der Regel beantwortet man dieseFrage mit einer Verweisung auf die intellektuelle Begabung der Römer, ihren scharfen, zersetzenden Verstand, ihren praktischen Takt u. s. w., und der Einfluß dieses Moments ist allerdings so in die Augen springend, daß ich darüber kein Wort verlieren mag. Aber was man nur zu oft vergißt, und was doch meiner Ansicht nach für das ältere Recht viel wesentlicher, ist die mo- ralische Kraft, die Willensenergie des römischen Volks. Das Recht ist nicht Ueberzeugung, Ansicht, Wissen u. s. w. Jhering, Geist d. röm. Rechts. 20
1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20. ſo hohen Grade gelang. In der Regel beantwortet man dieſeFrage mit einer Verweiſung auf die intellektuelle Begabung der Römer, ihren ſcharfen, zerſetzenden Verſtand, ihren praktiſchen Takt u. ſ. w., und der Einfluß dieſes Moments iſt allerdings ſo in die Augen ſpringend, daß ich darüber kein Wort verlieren mag. Aber was man nur zu oft vergißt, und was doch meiner Anſicht nach für das ältere Recht viel weſentlicher, iſt die mo- raliſche Kraft, die Willensenergie des römiſchen Volks. Das Recht iſt nicht Ueberzeugung, Anſicht, Wiſſen u. ſ. w. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 20
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1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
ſo hohen Grade gelang. In der Regel beantwortet man dieſe
Frage mit einer Verweiſung auf die intellektuelle Begabung der
Römer, ihren ſcharfen, zerſetzenden Verſtand, ihren praktiſchen
Takt u. ſ. w., und der Einfluß dieſes Moments iſt allerdings ſo
in die Augen ſpringend, daß ich darüber kein Wort verlieren
mag. Aber was man nur zu oft vergißt, und was doch meiner
Anſicht nach für das ältere Recht viel weſentlicher, iſt die mo-
raliſche Kraft, die Willensenergie des römiſchen Volks.
Das Recht iſt nicht Ueberzeugung, Anſicht, Wiſſen u. ſ. w.
kurz keine intellektuelle Größe, ſondern eine moraliſche, es iſt
Wille. Nur der Wille vermag dem Recht das zu geben, worin
das Weſen deſſelben beruht — die Wirklichkeit, nur er hat eine
real geſtaltende, ſchöpferiſche Kraft. Ein Volk möge intellektuell
noch ſo begabt ſein, fehlt ihm die moraliſche Kraft, die Energie
und Beharrlichkeit des Willens, ſo wird das Recht nie bei dem-
ſelben gedeihen. Seine Geſetze ſind nichts anders, als die
guten Vorſätze eines charakterloſen Menſchen, Eingebungen des
Augenblicks, die die Wirklichkeit Lügen ſtraft und der folgende
Augenblick verdrängt. Nur die Rechtsſätze und rechtlichen Inſti-
tutionen, die aus der Wirklichkeit des Lebens hervorgehn, haben
Beſtand und einen um ſo feſteren, dauerhafteren, als ſie durch
die moraliſche Kraft des Volks getragen werden. Ihre Feſtig-
keit und Dauerhaftigkeit iſt ſogar die Vorausſetzung ihrer tech-
niſch-juriſtiſchen Vollendung. Wie kann das geiſtige Auge des
Verſtandes das Recht erforſchen, wenn der Wille nicht ver-
mögend iſt, das Objekt der Beobachtung mit feſter Hand zu
halten? Wie troſtlos unter einer ſolchen Vorausſetzung der
Beruf, ſich geiſtig in das Objekt zu verſenken, der unſtäten,
wankelmüthigen Wirklichkeit eine Theorie abzugewinnen! Wie
unſicher die Ausſicht, die entdeckten Wahrheiten in Wirklichkeit
umzuſetzen, wie werthlos der Beſitz einer Lehre, die nur auf
dem Papiere ſteht! Die beſſern geiſtigen Kräfte der Nation
wenden ſich mit Unmuth von dieſer Beſchäftigung ab; die phi-
loſophiſche Ergründung des Rechts im allgemeinen mag ſie an-
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Zitationshilfe: | Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/323>, abgerufen am 26.07.2024. |