I. Prinzip d. subj. Willens -- System d. Selbsthülfe -- Privatrache. §. 11.
Die Ausübung der Privatrache mochte also in beiderseiti- gem Interesse in der Regel mit dem Abkaufen derselben enden, und für die Bestimmung der Abfindungssumme im einzelnen Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen, die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im System der öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei manchen Delikten diese Vereinbarung völlig den Partheien über- lassen, späterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die Hand, und anstatt also, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen müssen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere zu wenig bot, anstatt also hier auf Talion zu erkennen, setzte der Richter selbst eine Abfindungssumme fest. Dies ist die rö- mische Privatstrafe. Die Anhaltspunkte zur Bestimmung der- selben fand der Richter, wie es eben bemerkt ist, in der Sitte vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die- ses Verfahrens war der, im Anschluß an diese Anhaltspunkte ein für alle Male einen Tarif von festen Abfindungssummen aufzustellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den XII Tafeln feste Summen vorgeschrieben z. B. für die Injurien und einige Fälle des Diebstahls, für andere hingegen treten dieselben erst später im prätorischen Edikt auf z. B. für das furtum mani- festum. Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten Gründen auf eine solche gesetzliche Fixirung der Abfindungs- summe verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen, je nach Verschiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere, bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Diese Behand- lungsweise scheint man z. B. beim membrum ruptum vorgezo- gen zu haben, und in späterer Zeit adoptirte man sie auch bei den Injurien, weil das System der "festen Preise" sich bei ihnen nicht bewährt hatte.
Recht nie außer Acht lassen. Hätte man ihn stets im Auge behalten, so würde die falsche Theorie von der nach späterm römischen Recht aus einem pactum entspringenden obligatio naturalis sich schwerlich so sehr eingenistet haben.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. 9
I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — Privatrache. §. 11.
Die Ausübung der Privatrache mochte alſo in beiderſeiti- gem Intereſſe in der Regel mit dem Abkaufen derſelben enden, und für die Beſtimmung der Abfindungsſumme im einzelnen Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen, die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei manchen Delikten dieſe Vereinbarung völlig den Partheien über- laſſen, ſpäterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die Hand, und anſtatt alſo, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen müſſen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere zu wenig bot, anſtatt alſo hier auf Talion zu erkennen, ſetzte der Richter ſelbſt eine Abfindungsſumme feſt. Dies iſt die rö- miſche Privatſtrafe. Die Anhaltspunkte zur Beſtimmung der- ſelben fand der Richter, wie es eben bemerkt iſt, in der Sitte vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die- ſes Verfahrens war der, im Anſchluß an dieſe Anhaltspunkte ein für alle Male einen Tarif von feſten Abfindungsſummen aufzuſtellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den XII Tafeln feſte Summen vorgeſchrieben z. B. für die Injurien und einige Fälle des Diebſtahls, für andere hingegen treten dieſelben erſt ſpäter im prätoriſchen Edikt auf z. B. für das furtum mani- festum. Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten Gründen auf eine ſolche geſetzliche Fixirung der Abfindungs- ſumme verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen, je nach Verſchiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere, bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Dieſe Behand- lungsweiſe ſcheint man z. B. beim membrum ruptum vorgezo- gen zu haben, und in ſpäterer Zeit adoptirte man ſie auch bei den Injurien, weil das Syſtem der „feſten Preiſe“ ſich bei ihnen nicht bewährt hatte.
Recht nie außer Acht laſſen. Hätte man ihn ſtets im Auge behalten, ſo würde die falſche Theorie von der nach ſpäterm römiſchen Recht aus einem pactum entſpringenden obligatio naturalis ſich ſchwerlich ſo ſehr eingeniſtet haben.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0147"n="129"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — Privatrache. §. 11.</fw><lb/><p>Die Ausübung der Privatrache mochte alſo in beiderſeiti-<lb/>
gem Intereſſe in der Regel mit dem Abkaufen derſelben enden,<lb/>
und für die Beſtimmung der Abfindungsſumme im einzelnen<lb/>
Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen,<lb/>
die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im Syſtem der<lb/>
öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei<lb/>
manchen Delikten dieſe Vereinbarung völlig den Partheien über-<lb/>
laſſen, ſpäterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die<lb/>
Hand, und anſtatt alſo, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen<lb/>
müſſen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere<lb/>
zu wenig bot, anſtatt alſo hier auf Talion zu erkennen, ſetzte<lb/>
der Richter ſelbſt eine Abfindungsſumme feſt. Dies iſt die rö-<lb/>
miſche Privatſtrafe. Die Anhaltspunkte zur Beſtimmung der-<lb/>ſelben fand der Richter, wie es eben bemerkt iſt, in der Sitte<lb/>
vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die-<lb/>ſes Verfahrens war der, im Anſchluß an dieſe Anhaltspunkte<lb/>
ein für alle Male einen Tarif von feſten Abfindungsſummen<lb/>
aufzuſtellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den <hirendition="#aq">XII</hi><lb/>
Tafeln feſte Summen vorgeſchrieben z. B. für die Injurien und<lb/>
einige Fälle des Diebſtahls, für andere hingegen treten dieſelben<lb/>
erſt ſpäter im prätoriſchen Edikt auf z. B. für das <hirendition="#aq">furtum mani-<lb/>
festum.</hi> Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten<lb/>
Gründen auf eine ſolche geſetzliche Fixirung der Abfindungs-<lb/>ſumme verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen,<lb/>
je nach Verſchiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere,<lb/>
bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Dieſe Behand-<lb/>
lungsweiſe ſcheint man z. B. beim <hirendition="#aq">membrum ruptum</hi> vorgezo-<lb/>
gen zu haben, und in ſpäterer Zeit adoptirte man ſie auch bei<lb/>
den Injurien, weil das Syſtem der „feſten Preiſe“ſich bei ihnen<lb/>
nicht bewährt hatte.</p><lb/><p><notexml:id="seg2pn_4_2"prev="#seg2pn_4_1"place="foot"n="45)">Recht nie außer Acht laſſen. Hätte man ihn ſtets im Auge behalten, ſo würde<lb/>
die falſche Theorie von der nach ſpäterm römiſchen Recht aus einem <hirendition="#aq">pactum</hi><lb/>
entſpringenden <hirendition="#aq">obligatio naturalis</hi>ſich ſchwerlich ſo ſehr eingeniſtet haben.</note></p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 9</fw><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[129/0147]
I. Prinzip d. ſubj. Willens — Syſtem d. Selbſthülfe — Privatrache. §. 11.
Die Ausübung der Privatrache mochte alſo in beiderſeiti-
gem Intereſſe in der Regel mit dem Abkaufen derſelben enden,
und für die Beſtimmung der Abfindungsſumme im einzelnen
Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen,
die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im Syſtem der
öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei
manchen Delikten dieſe Vereinbarung völlig den Partheien über-
laſſen, ſpäterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die
Hand, und anſtatt alſo, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen
müſſen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere
zu wenig bot, anſtatt alſo hier auf Talion zu erkennen, ſetzte
der Richter ſelbſt eine Abfindungsſumme feſt. Dies iſt die rö-
miſche Privatſtrafe. Die Anhaltspunkte zur Beſtimmung der-
ſelben fand der Richter, wie es eben bemerkt iſt, in der Sitte
vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die-
ſes Verfahrens war der, im Anſchluß an dieſe Anhaltspunkte
ein für alle Male einen Tarif von feſten Abfindungsſummen
aufzuſtellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den XII
Tafeln feſte Summen vorgeſchrieben z. B. für die Injurien und
einige Fälle des Diebſtahls, für andere hingegen treten dieſelben
erſt ſpäter im prätoriſchen Edikt auf z. B. für das furtum mani-
festum. Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten
Gründen auf eine ſolche geſetzliche Fixirung der Abfindungs-
ſumme verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen,
je nach Verſchiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere,
bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Dieſe Behand-
lungsweiſe ſcheint man z. B. beim membrum ruptum vorgezo-
gen zu haben, und in ſpäterer Zeit adoptirte man ſie auch bei
den Injurien, weil das Syſtem der „feſten Preiſe“ ſich bei ihnen
nicht bewährt hatte.
45)
45) Recht nie außer Acht laſſen. Hätte man ihn ſtets im Auge behalten, ſo würde
die falſche Theorie von der nach ſpäterm römiſchen Recht aus einem pactum
entſpringenden obligatio naturalis ſich ſchwerlich ſo ſehr eingeniſtet haben.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/147>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.