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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961.

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225. An Karoline Herder in Freiberg.

-- Wer liebt, stellt sein Herz nackt von allen Seiten den Pfeilen
des Zufalls dar; und eine Mutter kann jeder Augenblick ver-
wunden. Einen Trost haben Sie am Grabe Ihres Gottfrieds,5
ich meine nicht den, daß er sein ganzes Leben gleichsam auf leichten
Flügeln durchging und das Schwere und Leichte leicht nahm,
sondern den größern, daß er die großen Perioden eines Menschen
oder die Freuden erreichte und erfüllte, die der wissenschaftlichen
Ausbildung, die der Liebe und Ehe und die, ein Vater zu sein. Was10
nachkommen könnte, wäre nur Wiederholung des Besten bis zur
Abschwächung gewesen. Er war reif; warum soll ein Mensch über-
reif werden? Und warum zürnen wir über das Schicksal, das
manchen den welkenden Lebens November durch einen Sommertodt
erläßt? Dieß tröste die Mutter, die leidende an neuen Wunden in15
alten.

So leert sich mir Weimar aus und nur die Petri Paul Kirche ist
noch voll.

226. An Jacobi in München.
20

Ich vergelte dir, du Lieber, deine Liebe wenig. Ich hätte schreiben
und reisen sollen. Aber meine Erziehungslehre, welche mir als ein
Buch voll Sentenzen mehr Zeit wegfrißt, als ich dachte, nahm mir
herrliche Maitage weg und die Brief- und Reise-Tage dazu. Erst
im August werde ich mit dem 2ten Bändchen fertig. Da nun das Buch25
zu Michaelis bei Vieweg in Braunschweig erscheint: so kann ich
meinen Zug, wie andere Zugvögel, nach dem letzten Orient meines
Innern -- denn du bist der einzige Autor, den ich noch zu sehen
wünsche -- erst im Herbst antreten. Auch den gespohrten Kampf-
hähnen, den Gallis, wollt' ich nicht gern begegnen, da ich wie der30
Löwe oder Petrus keine große Freude an ihrem Krähen habe. Für
die Menschheit geb' ich gern die Deutschheit hin; sobald aber beide
Einen Gesammtfeind haben: so wend' ich meine Augen von diesem.

Ich war nie in München, nicht einmal in Regenspurg, vor
welchem letztern mir als Rasttage-Mittelstazion und Halbscheide35


225. An Karoline Herder in Freiberg.

— Wer liebt, ſtellt ſein Herz nackt von allen Seiten den Pfeilen
des Zufalls dar; und eine Mutter kann jeder Augenblick ver-
wunden. Einen Troſt haben Sie am Grabe Ihres Gottfrieds,5
ich meine nicht den, daß er ſein ganzes Leben gleichſam auf leichten
Flügeln durchging und das Schwere und Leichte leicht nahm,
ſondern den größern, daß er die großen Perioden eines Menſchen
oder die Freuden erreichte und erfüllte, die der wiſſenſchaftlichen
Ausbildung, die der Liebe und Ehe und die, ein Vater zu ſein. Was10
nachkommen könnte, wäre nur Wiederholung des Beſten bis zur
Abſchwächung geweſen. Er war reif; warum ſoll ein Menſch über-
reif werden? Und warum zürnen wir über das Schickſal, das
manchen den welkenden Lebens November durch einen Sommertodt
erläßt? Dieß tröſte die Mutter, die leidende an neuen Wunden in15
alten.

So leert ſich mir Weimar aus und nur die Petri Paul Kirche iſt
noch voll.

226. An Jacobi in München.
20

Ich vergelte dir, du Lieber, deine Liebe wenig. Ich hätte ſchreiben
und reiſen ſollen. Aber meine Erziehungslehre, welche mir als ein
Buch voll Sentenzen mehr Zeit wegfrißt, als ich dachte, nahm mir
herrliche Maitage weg und die Brief- und Reiſe-Tage dazu. Erſt
im Auguſt werde ich mit dem 2ten Bändchen fertig. Da nun das Buch25
zu Michaelis bei Vieweg in Braunſchweig erſcheint: ſo kann ich
meinen Zug, wie andere Zugvögel, nach dem letzten Orient meines
Innern — denn du biſt der einzige Autor, den ich noch zu ſehen
wünſche — erſt im Herbſt antreten. Auch den geſpohrten Kampf-
hähnen, den Gallis, wollt’ ich nicht gern begegnen, da ich wie der30
Löwe oder Petrus keine große Freude an ihrem Krähen habe. Für
die Menſchheit geb’ ich gern die Deutſchheit hin; ſobald aber beide
Einen Geſammtfeind haben: ſo wend’ ich meine Augen von dieſem.

Ich war nie in München, nicht einmal in Regenspurg, vor
welchem letztern mir als Raſttage-Mittelſtazion und Halbſcheide35

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[94/0109] 225. An Karoline Herder in Freiberg. [Kopie][Bayreuth, 24. Juni 1806] — Wer liebt, ſtellt ſein Herz nackt von allen Seiten den Pfeilen des Zufalls dar; und eine Mutter kann jeder Augenblick ver- wunden. Einen Troſt haben Sie am Grabe Ihres Gottfrieds, 5 ich meine nicht den, daß er ſein ganzes Leben gleichſam auf leichten Flügeln durchging und das Schwere und Leichte leicht nahm, ſondern den größern, daß er die großen Perioden eines Menſchen oder die Freuden erreichte und erfüllte, die der wiſſenſchaftlichen Ausbildung, die der Liebe und Ehe und die, ein Vater zu ſein. Was 10 nachkommen könnte, wäre nur Wiederholung des Beſten bis zur Abſchwächung geweſen. Er war reif; warum ſoll ein Menſch über- reif werden? Und warum zürnen wir über das Schickſal, das manchen den welkenden Lebens November durch einen Sommertodt erläßt? Dieß tröſte die Mutter, die leidende an neuen Wunden in 15 alten. So leert ſich mir Weimar aus und nur die Petri Paul Kirche iſt noch voll. 226. An Jacobi in München. Bayreuth d. 24 Jun. 1806 20 Ich vergelte dir, du Lieber, deine Liebe wenig. Ich hätte ſchreiben und reiſen ſollen. Aber meine Erziehungslehre, welche mir als ein Buch voll Sentenzen mehr Zeit wegfrißt, als ich dachte, nahm mir herrliche Maitage weg und die Brief- und Reiſe-Tage dazu. Erſt im Auguſt werde ich mit dem 2ten Bändchen fertig. Da nun das Buch 25 zu Michaelis bei Vieweg in Braunſchweig erſcheint: ſo kann ich meinen Zug, wie andere Zugvögel, nach dem letzten Orient meines Innern — denn du biſt der einzige Autor, den ich noch zu ſehen wünſche — erſt im Herbſt antreten. Auch den geſpohrten Kampf- hähnen, den Gallis, wollt’ ich nicht gern begegnen, da ich wie der 30 Löwe oder Petrus keine große Freude an ihrem Krähen habe. Für die Menſchheit geb’ ich gern die Deutſchheit hin; ſobald aber beide Einen Geſammtfeind haben: ſo wend’ ich meine Augen von dieſem. Ich war nie in München, nicht einmal in Regenspurg, vor welchem letztern mir als Raſttage-Mittelſtazion und Halbſcheide 35

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:13:57Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:13:57Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe05_1961/109>, abgerufen am 27.04.2024.