Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959.-- Vergieb mir, Geliebter, diesen öden, dem Zufal abgeackerten Vergieb mir, Heinrich; ich wil mich bessern, ich meine meine Briefe*). Lebe wohl, du Unverdienter!15 Richter Hier ist doch Fichtes Brief, ich hatte zum längern Behalten weder (*)275. An Josephine von Sydow. Weimar d. 6 Jun. 99.20Theuere Josephine! Eben erhielt ich Ihre Blätter und Ge- *) Ich bin, seit ich du zu dir sage, viel dümmer, und bin nicht vermögend, das
[zu] überlegen oder zu berechnen oder zu übermalen, was ich dir sagen wil: sondern ich tunke blos ein.35 — Vergieb mir, Geliebter, dieſen öden, dem Zufal abgeackerten Vergieb mir, Heinrich; ich wil mich beſſern, ich meine meine Briefe*). Lebe wohl, du Unverdienter!15 Richter Hier iſt doch Fichtes Brief, ich hatte zum längern Behalten weder (*)275. An Joſephine von Sydow. Weimar d. 6 Jun. 99.20Theuere Josephine! Eben erhielt ich Ihre Blätter und Ge- *) Ich bin, ſeit ich du zu dir ſage, viel dümmer, und bin nicht vermögend, das
[zu] überlegen oder zu berechnen oder zu übermalen, was ich dir ſagen wil: ſondern ich tunke blos ein.35 <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0215" n="200"/> <p>— Vergieb mir, Geliebter, dieſen öden, dem Zufal abgeackerten<lb/> Brief. Ich wolte dir anfangs aus meinen Gehirnkammern ſo viele<lb/> Kreidenzeichnungen abſchreiben, die nun alle die Zeit und die Reiſe<lb/> ausgewiſcht hat. <hi rendition="#g">Wenn</hi> ich dich ſehe? — Ach ich ſage nichts; hätt’<lb/> ich eine Braut oder Frau, ſo wär’ alles — leicht; aber jezt mach’ ich<lb n="5"/> <hi rendition="#g">andere</hi> Entdeckungsreiſen. Ich kenne nun das Leben, beſonders das<lb/> auflöſende bei genialiſchen Weibern, die zugleich verwirren und zer-<lb/> ſezen und verſpäten — nein, ich wil ein einfaches ſtilleres Herz, damit<lb/><note place="left"><ref target="1922_Bd3_220">[220]</ref></note>meine Kindheit und das Leben bei meinen Eltern wiederkomme und<lb/> alles, was das erinnernde Herz ewig vormalt ...<lb n="10"/> </p> <p>Vergieb mir, Heinrich; ich wil mich beſſern, ich meine meine Briefe<note place="foot" n="*)">Ich bin, ſeit ich du zu dir ſage, viel dümmer, und bin nicht vermögend, das<lb/> [zu] überlegen oder zu berechnen oder zu übermalen, was ich dir ſagen wil: ſondern<lb/> ich tunke blos ein.<lb n="35"/> </note>.<lb/> Sage wieder deinen ſo würdigen Schweſtern, die ich durch ſo ſchöne<lb/> Stimmen kenne, meine herzlichſte Liebe und Achtung; und auch dem<lb/> Stolbergſchen Hauſe! —</p><lb/> <p>Lebe wohl, du Unverdienter!<lb n="15"/> </p> <closer> <salute> <hi rendition="#right">Richter</hi> </salute> </closer><lb/> <postscript> <p>Hier iſt doch Fichtes Brief, ich hatte zum längern Behalten weder<lb/> Muth noch Recht.</p> </postscript> </div> </div><lb/> <div type="letter" n="1"> <head>(*)275. An <hi rendition="#g">Joſephine von Sydow.</hi></head><lb/> <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Weimar d. 6 Jun.</hi> 99.</hi> </dateline> <lb n="20"/> <p> <hi rendition="#aq">Theuere Josephine! Eben erhielt ich Ihre Blätter und Ge-<lb/> schenke; und meine Seele kan nun nichts anders thun als mit<lb/> der schönen Schwesterseele sprechen die zu ihr gesprochen. Ich<lb/> habe so viel zu sagen und brauche stat des Papiers — Berlin.<lb/> Der Winter ist auch für mich und für alle berlinische Gaben die<lb n="25"/> schönere Zeit; nichts bleibt dem Zufal anheimgestelt als der<lb/> Monat, aber nicht der Entschlus. Denn ich mus nun die ver-<lb/> trauende Seele sehen, die verwandte, die liebende, die geliebte,<lb/> die leidende — Und die Seele, die ungesehen mich zu Thränen<lb/> bewegte, da sie schrieb, daß sie durch ihre kleine Charlotte mir<lb n="30"/> ihr Stilschweigen, wenn es der Tod auflege, entschuldigen wolle —<lb/> O du weiches zartes Herz, hätt’ ich es neben dir gelesen, ich wär’<lb/></hi> </p> </div> </body> </text> </TEI> [200/0215]
— Vergieb mir, Geliebter, dieſen öden, dem Zufal abgeackerten
Brief. Ich wolte dir anfangs aus meinen Gehirnkammern ſo viele
Kreidenzeichnungen abſchreiben, die nun alle die Zeit und die Reiſe
ausgewiſcht hat. Wenn ich dich ſehe? — Ach ich ſage nichts; hätt’
ich eine Braut oder Frau, ſo wär’ alles — leicht; aber jezt mach’ ich 5
andere Entdeckungsreiſen. Ich kenne nun das Leben, beſonders das
auflöſende bei genialiſchen Weibern, die zugleich verwirren und zer-
ſezen und verſpäten — nein, ich wil ein einfaches ſtilleres Herz, damit
meine Kindheit und das Leben bei meinen Eltern wiederkomme und
alles, was das erinnernde Herz ewig vormalt ... 10
[220]Vergieb mir, Heinrich; ich wil mich beſſern, ich meine meine Briefe *).
Sage wieder deinen ſo würdigen Schweſtern, die ich durch ſo ſchöne
Stimmen kenne, meine herzlichſte Liebe und Achtung; und auch dem
Stolbergſchen Hauſe! —
Lebe wohl, du Unverdienter! 15
Richter
Hier iſt doch Fichtes Brief, ich hatte zum längern Behalten weder
Muth noch Recht.
(*)275. An Joſephine von Sydow.
Weimar d. 6 Jun. 99. 20
Theuere Josephine! Eben erhielt ich Ihre Blätter und Ge-
schenke; und meine Seele kan nun nichts anders thun als mit
der schönen Schwesterseele sprechen die zu ihr gesprochen. Ich
habe so viel zu sagen und brauche stat des Papiers — Berlin.
Der Winter ist auch für mich und für alle berlinische Gaben die 25
schönere Zeit; nichts bleibt dem Zufal anheimgestelt als der
Monat, aber nicht der Entschlus. Denn ich mus nun die ver-
trauende Seele sehen, die verwandte, die liebende, die geliebte,
die leidende — Und die Seele, die ungesehen mich zu Thränen
bewegte, da sie schrieb, daß sie durch ihre kleine Charlotte mir 30
ihr Stilschweigen, wenn es der Tod auflege, entschuldigen wolle —
O du weiches zartes Herz, hätt’ ich es neben dir gelesen, ich wär’
*) Ich bin, ſeit ich du zu dir ſage, viel dümmer, und bin nicht vermögend, das
[zu] überlegen oder zu berechnen oder zu übermalen, was ich dir ſagen wil: ſondern
ich tunke blos ein. 35
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(2016-11-22T15:05:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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