Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.672. An Herder. Hof. d. 31 Jul. 97.Einziger und Erster! Als Raphael seinen Johannes erschaffen Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um- [358]Wie alle Ihre dichterischen Übersezungen nur Metempsychosen *) Daher erhielten gerade Leibniz und Lessing, weil sie jeder menschlichen An-35
sicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige. 672. An Herder. Hof. d. 31 Jul. 97.Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um- [358]Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen *) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An-35
ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige. <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0373" n="356"/> <div type="letter" n="1"> <head>672. An <hi rendition="#g">Herder.</hi></head><lb/> <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Hof.</hi> d. 31 Jul. 97.</hi> </dateline><lb/> <p>Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen <hi rendition="#g">Johannes</hi> erſchaffen<lb/> hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie <hi rendition="#aq">(p. VIII</hi> im <hi rendition="#g">Johannes)</hi><lb/> ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? —<lb n="5"/> </p> <p>Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-<lb/> faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan<lb/> ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber.<lb/> Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede<lb/> fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein-<lb n="10"/> weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder<lb/> in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres.<note place="foot" n="*)">Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An-<lb n="35"/> ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.</note> Daher iſt das<lb/> nicht immer blos <hi rendition="#aq">ad hominem</hi> geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern<lb/> der <hi rendition="#g">Vorhang</hi> des Parrhaſius iſt oft ſelber ein <hi rendition="#g">Gemälde;</hi> wie Ihre<lb/> philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in<lb n="15"/> denen allemal mit der <hi rendition="#g">Tiefe</hi> zugleich die <hi rendition="#g">Weite</hi> zunimt. Ich meine,<lb/> je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni-<lb/> verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet<lb/> ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der<lb/> Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine<lb n="20"/> Gegenſtände vor uns liegen.</p><lb/> <p><note place="left"><ref target="1922_Bd2_358">[358]</ref></note>Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen<lb/><hi rendition="#g">Ihres</hi> Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die<lb/> Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere<lb/> Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom<lb n="25"/> nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er<lb/> ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die<lb/> Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern<lb/> weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet.<lb/> Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube<lb n="30"/> und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt<lb/> der lezte Period <hi rendition="#aq">p.</hi> 58.; — erquickend wahr <hi rendition="#aq">p. 276—300 — p.</hi> 210 in<lb/> der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti<lb/> eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [356/0373]
672. An Herder.
Hof. d. 31 Jul. 97.
Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen
hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes)
ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? — 5
Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-
faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan
ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber.
Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede
fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein- 10
weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder
in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres. *) Daher iſt das
nicht immer blos ad hominem geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern
der Vorhang des Parrhaſius iſt oft ſelber ein Gemälde; wie Ihre
philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in 15
denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine,
je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni-
verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet
ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der
Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine 20
Gegenſtände vor uns liegen.
Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen
Ihres Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die
Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere
Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom 25
nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er
ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die
Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern
weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet.
Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube 30
und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt
der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in
der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti
eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,
[358]
*) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An- 35
ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.
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Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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