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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

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672. An Herder.

Einziger und Erster! Als Raphael seinen Johannes erschaffen
hatte, kont' er mit so vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes)
sagen: ich bin kein Maler. Aber wer sagt dan: ich bin einer? --5

Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-
fassenden latitudinarischen Sinne lesen, womit Sie darstellen: dan
sind -- wenigstens auf dem Drukpapier -- die Religionskriege vorüber.
Aber da Sie wahrhaft poetisch und dramatisch in Ihre Denkweise jede
fremde, sowohl der Völker als Individuen, auffassen und schonend ein-10
weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: so findet jeder
in Ihrem weiten System leichter seines als Ihres.*) Daher ist das
nicht immer blos ad hominem geschrieben, was so scheint: sondern
der Vorhang des Parrhasius ist oft selber ein Gemälde; wie Ihre
philosophischen und ästhetischen Untersuchungen mir beweisen, in15
denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine,
je länger Sie ein Objekt beschauen, desto mehr Stralen aus dem Uni-
versum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet
sich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand ist verständlicher als der
Einseitige und dem Kurzsichtigen glaubt man am ersten, weil seine20
Gegenstände vor uns liegen.

[358]Wie alle Ihre dichterischen Übersezungen nur Metempsychosen
Ihres Geistes sind, so assimilieren Sie jede fremde Meinung, die
Sie annehmen, zu Ihrer. -- Ihr Johannes, der eine gelehrtere
Kritik voraussezt als der Vorgänger, ist der mehr rein-menschliche vom25
nazionellen Manierierten gesäuberte Abris des Christenthums. Er
stillet wie eine Ewigkeit sanft das Herz, nicht weil er Fragen über die
Religion -- die schon der Geist der Zeit entschieden hat -- sondern
weil er schwere Fragen über die Geschichte der Menschheit auflöset.
Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rousseau'n der Glaube30
und der Unglaube ans Evangelium gleich schwer. Frappant wahr ist
der lezte Period p. 58.; -- erquickend wahr p. 276--300 -- p. 210 in
der Note ist Ihre Meinung über die Aufer-- --wachung Christi
eben so klar als heterodox, die sogar der Orthodoxe annehmen könte,

*) Daher erhielten gerade Leibniz und Lessing, weil sie jeder menschlichen An-35
sicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.
672. An Herder.

Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen
hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes)
ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? —5

Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-
faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan
ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber.
Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede
fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein-10
weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder
in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres.*) Daher iſt das
nicht immer blos ad hominem geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern
der Vorhang des Parrhaſius iſt oft ſelber ein Gemälde; wie Ihre
philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in15
denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine,
je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni-
verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet
ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der
Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine20
Gegenſtände vor uns liegen.

[358]Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen
Ihres Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die
Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere
Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom25
nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er
ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die
Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern
weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet.
Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube30
und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt
der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in
der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti
eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,

*) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An-35
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[356/0373] 672. An Herder. Hof. d. 31 Jul. 97. Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes) ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? — 5 Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um- faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber. Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein- 10 weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres. *) Daher iſt das nicht immer blos ad hominem geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern der Vorhang des Parrhaſius iſt oft ſelber ein Gemälde; wie Ihre philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in 15 denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine, je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni- verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine 20 Gegenſtände vor uns liegen. Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen Ihres Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom 25 nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet. Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube 30 und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte, [358] *) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An- 35 ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/373>, abgerufen am 27.04.2024.