Dein Brief, den ich eben iezt vor mir [!] lege, stimt mich in einen andern Ton und fürt mich auf eine andre Ursache, warum ich dir gern schreibe. Die angegebne betraf meinen Kopf; die zweite, die ich an- geben wil, mein Herz, dessen Rechten weder meine Philosophie noch meine Satyre einen Eintrag tun sol. Lieber mag das Herz dem Kopfe5 widersprechen als ihm unterliegen; und der Widerspruch ist im Grunde nur scheinbar, wie zwischen Helvezius Grundsäzen und Leben; aber die Niederlage wäre es nicht, wie bei Voltaire u. a. Was ich sagen wolte, war daß sich Empfindungen leichter schreiben als sagen lassen. Die Verschönerung noch ungerechnet, welche dem Gegenstande der erstern10 von der Einbildung wiederfärt und wodurch er abwesend noch mer gefält als gegenwärtig -- dies lezte ist in solchem Masse war, daß oft das geringste Wort und eine gleichgültige Mine des Originals die Kopie beleidigt, die die liebreiche Phantasie, von ihm vorher entworfen hatte -- dies ungerechnet, sag' ich, so ist schon folgendes genug. Ich15 unterdrükke die Aufwallungen des Zorns weit seltner als der Liebe; und man spielt da den falschen, wo man es am wenigsten ist, und ver- birgt nur das nicht, was man verbergen solte. Der Ergeiz -- diese Wurzel der Übel, an der der Geiz nur einen Zweig ausmacht -- ver- ursacht beides. Der gröste Schaden der Empfind[e]lei ist -- wo nicht20 die Verdrängung -- wenigstens die Verbergung der Empfindsamkeit und das Gefül schämt sich iezt der Tränen, die die Verschwendung entheiligte. -- Auch giebt es zwei verschiedne Zeitpunkte in der Freundschaft; einen, wo man die Empfindung sagen kan, da vergütet der Brief die Abwesenheit; und einen andern, wo man sie verschweigen25 mus, o dan verursacht schon der Körper eine zu grosse Entfernung. -- Diesen unsatirischen Ton schlug in mir nicht nur dein Brief, sondern [83]auch meine gestrige Reise zu deinen lieben Eltern an! Ich habe tausend- mal mer Vergnügen bei ihnen gefunden als in einer gewissen Gesel- schaft stolzer Neulinge, wovon ich unten reden wil. Ich wolte noch viel30 mer sagen, aber ich fürchte daß dir diese Stelle meines Briefs vielleicht lächerlicher scheinen könte als die andern, die es sein sollen. Nicht daß ich dir dadurch weniger Gefül zutraute! Sondern nur der Schein, mir selbst zu widersprechen, könte deine Ernsthaftigkeit aus der Fassung kizeln. Welche Widersprüche werden mir nicht deine Augen leihen!35 Aber du sagst mir nichts; du verschweigst meine Feler, wie ich meine Empfindungen. -- "Gleich!" ich meine den, der mich schon zweimal
Dein Brief, den ich eben iezt vor mir [!] lege, ſtimt mich in einen andern Ton und fürt mich auf eine andre Urſache, warum ich dir gern ſchreibe. Die angegebne betraf meinen Kopf; die zweite, die ich an- geben wil, mein Herz, deſſen Rechten weder meine Philoſophie noch meine Satyre einen Eintrag tun ſol. Lieber mag das Herz dem Kopfe5 widerſprechen als ihm unterliegen; und der Widerſpruch iſt im Grunde nur ſcheinbar, wie zwiſchen Helvezius Grundſäzen und Leben; aber die Niederlage wäre es nicht, wie bei Voltaire u. a. Was ich ſagen wolte, war daß ſich Empfindungen leichter ſchreiben als ſagen laſſen. Die Verſchönerung noch ungerechnet, welche dem Gegenſtande der erſtern10 von der Einbildung wiederfärt und wodurch er abweſend noch mer gefält als gegenwärtig — dies lezte iſt in ſolchem Maſſe war, daß oft das geringſte Wort und eine gleichgültige Mine des Originals die Kopie beleidigt, die die liebreiche Phantaſie, von ihm vorher entworfen hatte — dies ungerechnet, ſag’ ich, ſo iſt ſchon folgendes genug. Ich15 unterdrükke die Aufwallungen des Zorns weit ſeltner als der Liebe; und man ſpielt da den falſchen, wo man es am wenigſten iſt, und ver- birgt nur das nicht, was man verbergen ſolte. Der Ergeiz — dieſe Wurzel der Übel, an der der Geiz nur einen Zweig ausmacht — ver- urſacht beides. Der gröſte Schaden der Empfind[e]lei iſt — wo nicht20 die Verdrängung — wenigſtens die Verbergung der Empfindſamkeit und das Gefül ſchämt ſich iezt der Tränen, die die Verſchwendung entheiligte. — Auch giebt es zwei verſchiedne Zeitpunkte in der Freundſchaft; einen, wo man die Empfindung ſagen kan, da vergütet der Brief die Abweſenheit; und einen andern, wo man ſie verſchweigen25 mus, o dan verurſacht ſchon der Körper eine zu groſſe Entfernung. — Dieſen unſatiriſchen Ton ſchlug in mir nicht nur dein Brief, ſondern [83]auch meine geſtrige Reiſe zu deinen lieben Eltern an! Ich habe tauſend- mal mer Vergnügen bei ihnen gefunden als in einer gewiſſen Geſel- ſchaft ſtolzer Neulinge, wovon ich unten reden wil. Ich wolte noch viel30 mer ſagen, aber ich fürchte daß dir dieſe Stelle meines Briefs vielleicht lächerlicher ſcheinen könte als die andern, die es ſein ſollen. Nicht daß ich dir dadurch weniger Gefül zutraute! Sondern nur der Schein, mir ſelbſt zu widerſprechen, könte deine Ernſthaftigkeit aus der Faſſung kizeln. Welche Widerſprüche werden mir nicht deine Augen leihen!35 Aber du ſagſt mir nichts; du verſchweigſt meine Feler, wie ich meine Empfindungen. — „Gleich!“ ich meine den, der mich ſchon zweimal
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Dein Brief, den ich eben iezt vor mir [!] lege, ſtimt mich in einen
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geben wil, mein Herz, deſſen Rechten weder meine Philoſophie noch
meine Satyre einen Eintrag tun ſol. Lieber mag das Herz dem Kopfe 5
widerſprechen als ihm unterliegen; und der Widerſpruch iſt im Grunde
nur ſcheinbar, wie zwiſchen Helvezius Grundſäzen und Leben; aber
die Niederlage wäre es nicht, wie bei Voltaire u. a. Was ich ſagen
wolte, war daß ſich Empfindungen leichter ſchreiben als ſagen laſſen. Die
Verſchönerung noch ungerechnet, welche dem Gegenſtande der erſtern 10
von der Einbildung wiederfärt und wodurch er abweſend noch mer
gefält als gegenwärtig — dies lezte iſt in ſolchem Maſſe war, daß oft das
geringſte Wort und eine gleichgültige Mine des Originals die Kopie
beleidigt, die die liebreiche Phantaſie, von ihm vorher entworfen
hatte — dies ungerechnet, ſag’ ich, ſo iſt ſchon folgendes genug. Ich 15
unterdrükke die Aufwallungen des Zorns weit ſeltner als der Liebe;
und man ſpielt da den falſchen, wo man es am wenigſten iſt, und ver-
birgt nur das nicht, was man verbergen ſolte. Der Ergeiz — dieſe
Wurzel der Übel, an der der Geiz nur einen Zweig ausmacht — ver-
urſacht beides. Der gröſte Schaden der Empfind[e]lei iſt — wo nicht 20
die Verdrängung — wenigſtens die Verbergung der Empfindſamkeit
und das Gefül ſchämt ſich iezt der Tränen, die die Verſchwendung
entheiligte. — Auch giebt es zwei verſchiedne Zeitpunkte in der
Freundſchaft; einen, wo man die Empfindung ſagen kan, da vergütet
der Brief die Abweſenheit; und einen andern, wo man ſie verſchweigen 25
mus, o dan verurſacht ſchon der Körper eine zu groſſe Entfernung. —
Dieſen unſatiriſchen Ton ſchlug in mir nicht nur dein Brief, ſondern
auch meine geſtrige Reiſe zu deinen lieben Eltern an! Ich habe tauſend-
mal mer Vergnügen bei ihnen gefunden als in einer gewiſſen Geſel-
ſchaft ſtolzer Neulinge, wovon ich unten reden wil. Ich wolte noch viel 30
mer ſagen, aber ich fürchte daß dir dieſe Stelle meines Briefs vielleicht
lächerlicher ſcheinen könte als die andern, die es ſein ſollen. Nicht daß
ich dir dadurch weniger Gefül zutraute! Sondern nur der Schein, mir
ſelbſt zu widerſprechen, könte deine Ernſthaftigkeit aus der Faſſung
kizeln. Welche Widerſprüche werden mir nicht deine Augen leihen! 35
Aber du ſagſt mir nichts; du verſchweigſt meine Feler, wie ich meine
Empfindungen. — „Gleich!“ ich meine den, der mich ſchon zweimal
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/99>, abgerufen am 22.11.2024.
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