Um die Lehren eurer klugen Weisheit zu verstehen, um sie annehmlich zu finden, muß die Seele sich im Zustande des Gleich- gewichts befinden, müssen ihre lebhaftesten Begierden -- eingeschläfert seyn; welches so viel gesagt ist, als sie muß ausser Stand, oder doch wenigstens ausser der Lage seyn, ir- gend eine entzückende Freude zu empfinden. -- Hole der Henker einen solchen Zustand für jeden wackern Jungen! Genießen und Leiden ist die Bestimmung des Menschen. Der Feige nur läßt sich durch Drohungen abhalten, seine Wünsche zu verfolgen: der Herzhafte spottet des; ruft Liebe bis in den Tod! und weiß sein Schicksal zu er- tragen.
Es ist die hohlste Idee von der Welt, daß bloße Vernunft die Basis unsrer Handlun- gen seyn könne; da sie für sich allein nur das Vermögen hat, gegebene Empfindungen und Neigungen dem Herzen vorzuschemati- sieren, und augenscheinlich überall nur im
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Um die Lehren eurer klugen Weisheit zu verſtehen, um ſie annehmlich zu finden, muß die Seele ſich im Zuſtande des Gleich- gewichts befinden, muͤſſen ihre lebhafteſten Begierden — eingeſchlaͤfert ſeyn; welches ſo viel geſagt iſt, als ſie muß auſſer Stand, oder doch wenigſtens auſſer der Lage ſeyn, ir- gend eine entzuͤckende Freude zu empfinden. — Hole der Henker einen ſolchen Zuſtand fuͤr jeden wackern Jungen! Genießen und Leiden iſt die Beſtimmung des Menſchen. Der Feige nur laͤßt ſich durch Drohungen abhalten, ſeine Wuͤnſche zu verfolgen: der Herzhafte ſpottet des; ruft Liebe bis in den Tod! und weiß ſein Schickſal zu er- tragen.
Es iſt die hohlſte Idee von der Welt, daß bloße Vernunft die Baſis unſrer Handlun- gen ſeyn koͤnne; da ſie fuͤr ſich allein nur das Vermoͤgen hat, gegebene Empfindungen und Neigungen dem Herzen vorzuſchemati- ſieren, und augenſcheinlich uͤberall nur im
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Um die Lehren eurer klugen Weisheit zu
verſtehen, um ſie annehmlich zu finden,
muß die Seele ſich im Zuſtande des Gleich-
gewichts befinden, muͤſſen ihre lebhafteſten
Begierden — eingeſchlaͤfert ſeyn; welches ſo
viel geſagt iſt, als ſie muß auſſer Stand,
oder doch wenigſtens auſſer der Lage ſeyn, ir-
gend eine entzuͤckende Freude zu empfinden. —
Hole der Henker einen ſolchen Zuſtand fuͤr
jeden wackern Jungen! Genießen und
Leiden iſt die Beſtimmung des Menſchen.
Der Feige nur laͤßt ſich durch Drohungen
abhalten, ſeine Wuͤnſche zu verfolgen: der
Herzhafte ſpottet des; ruft Liebe bis in
den Tod! und weiß ſein Schickſal zu er-
tragen.
Es iſt die hohlſte Idee von der Welt, daß
bloße Vernunft die Baſis unſrer Handlun-
gen ſeyn koͤnne; da ſie fuͤr ſich allein nur
das Vermoͤgen hat, gegebene Empfindungen
und Neigungen dem Herzen vorzuſchemati-
ſieren, und augenſcheinlich uͤberall nur im
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/267>, abgerufen am 11.06.2024.
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