die Leiche seines Bruders nicht zum Grabe begleiten konnte, gab indeß zuletzt mit schwerem Herzen nach, und öffnete hier¬ auf eine Grube, in welcher der Wintervorrath von Kartoffeln aufbewahrt wurde. Er fand sie sämmtlich verfault, und von Entsetzen über alles frühere Elend und über bevorstehende grim¬ mige Noth ergriffen, gerieth er in die heftigste Wuth, und warf sich, nach Hause zurückgekehrt, auf unsere Kranke und ihre Schwester, um beide zu ermorden. Nur die herbeieilen¬ den Aeltern konnten den Frevel verhindern, jedoch nicht die Wuth des Rasenden bändigen, welcher aus dem Hause ent¬ floh, mit einem Beile sich die Hand abhieb, und in Ketten gelegt werden mußte, in denen er bald darauf starb. Jeder Versuch, mit grellen Farben ein Gemälde der größten See¬ lennoth zu entwerfen, ist fast eine leichtsinnige Verhöhnung zu nennen; sie hat in ihrer Erscheinung fast die Majestät des Unermeßlichen, welches keine beschauende Vorstellung umfaßt. Wir können daher über den damaligen Seelenzustand der S. nur so viel sagen, daß derselbe die Verzweiflung unter dem Schleier der Religion war, nämlich jene Todesangst, welche sich noch an den Glauben als den letzten Rettungsanker klam¬ mert, ohne jedoch inmitten der tobenden und verschlingenden Brandung des Lebens noch irgend eines klaren Gedankens, ei¬ nes beruhigten und befriedigten Gefühls theilhaftig werden zu können. Solche Zustände sind die der innerlichsten Zerrüttung, deren schneidende Widersprüche sich erst durch die schreiendsten Dissonanzen, für welche die Sprache keine Bezeichnung, die Phantasie kein Bild mehr hat, und welche höchstens noch die Musik mit ihren Tonfiguren ausdrückt, hindurchkämpfen müs¬ sen, um überhaupt erst die Fassung der Vorstellungen und Ge¬ fühle zu irgend einer Form nach innerem Gesetz wieder möglich zu machen. Oft genug geht die Organisation der Seele nach einer solchen Verwüstung für das ganze künftige Erdenleben in völliger Geistesverwirrung zu Grunde. Wenn die S. nicht auf diese Weise einer gänzlichen Selbstvergessenheit zum Raube wurde, so verdankt sie dies allein ihrer tief gewurzelten Fröm¬ migkeit, welche wohl erschüttert, aber nicht mehr vertilgt wer¬ den konnte. In ihr fand sie zuletzt doch die Kraft, sich aus der Betäubung und Erstarrung im heftigsten Schmerze wieder
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die Leiche ſeines Bruders nicht zum Grabe begleiten konnte, gab indeß zuletzt mit ſchwerem Herzen nach, und oͤffnete hier¬ auf eine Grube, in welcher der Wintervorrath von Kartoffeln aufbewahrt wurde. Er fand ſie ſaͤmmtlich verfault, und von Entſetzen uͤber alles fruͤhere Elend und uͤber bevorſtehende grim¬ mige Noth ergriffen, gerieth er in die heftigſte Wuth, und warf ſich, nach Hauſe zuruͤckgekehrt, auf unſere Kranke und ihre Schweſter, um beide zu ermorden. Nur die herbeieilen¬ den Aeltern konnten den Frevel verhindern, jedoch nicht die Wuth des Raſenden baͤndigen, welcher aus dem Hauſe ent¬ floh, mit einem Beile ſich die Hand abhieb, und in Ketten gelegt werden mußte, in denen er bald darauf ſtarb. Jeder Verſuch, mit grellen Farben ein Gemaͤlde der groͤßten See¬ lennoth zu entwerfen, iſt faſt eine leichtſinnige Verhoͤhnung zu nennen; ſie hat in ihrer Erſcheinung faſt die Majeſtaͤt des Unermeßlichen, welches keine beſchauende Vorſtellung umfaßt. Wir koͤnnen daher uͤber den damaligen Seelenzuſtand der S. nur ſo viel ſagen, daß derſelbe die Verzweiflung unter dem Schleier der Religion war, naͤmlich jene Todesangſt, welche ſich noch an den Glauben als den letzten Rettungsanker klam¬ mert, ohne jedoch inmitten der tobenden und verſchlingenden Brandung des Lebens noch irgend eines klaren Gedankens, ei¬ nes beruhigten und befriedigten Gefuͤhls theilhaftig werden zu koͤnnen. Solche Zuſtaͤnde ſind die der innerlichſten Zerruͤttung, deren ſchneidende Widerſpruͤche ſich erſt durch die ſchreiendſten Diſſonanzen, fuͤr welche die Sprache keine Bezeichnung, die Phantaſie kein Bild mehr hat, und welche hoͤchſtens noch die Muſik mit ihren Tonfiguren ausdruͤckt, hindurchkaͤmpfen muͤſ¬ ſen, um uͤberhaupt erſt die Faſſung der Vorſtellungen und Ge¬ fuͤhle zu irgend einer Form nach innerem Geſetz wieder moͤglich zu machen. Oft genug geht die Organiſation der Seele nach einer ſolchen Verwuͤſtung fuͤr das ganze kuͤnftige Erdenleben in voͤlliger Geiſtesverwirrung zu Grunde. Wenn die S. nicht auf dieſe Weiſe einer gaͤnzlichen Selbſtvergeſſenheit zum Raube wurde, ſo verdankt ſie dies allein ihrer tief gewurzelten Froͤm¬ migkeit, welche wohl erſchuͤttert, aber nicht mehr vertilgt wer¬ den konnte. In ihr fand ſie zuletzt doch die Kraft, ſich aus der Betaͤubung und Erſtarrung im heftigſten Schmerze wieder
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die Leiche ſeines Bruders nicht zum Grabe begleiten konnte,
gab indeß zuletzt mit ſchwerem Herzen nach, und oͤffnete hier¬
auf eine Grube, in welcher der Wintervorrath von Kartoffeln
aufbewahrt wurde. Er fand ſie ſaͤmmtlich verfault, und von
Entſetzen uͤber alles fruͤhere Elend und uͤber bevorſtehende grim¬
mige Noth ergriffen, gerieth er in die heftigſte Wuth, und
warf ſich, nach Hauſe zuruͤckgekehrt, auf unſere Kranke und
ihre Schweſter, um beide zu ermorden. Nur die herbeieilen¬
den Aeltern konnten den Frevel verhindern, jedoch nicht die
Wuth des Raſenden baͤndigen, welcher aus dem Hauſe ent¬
floh, mit einem Beile ſich die Hand abhieb, und in Ketten
gelegt werden mußte, in denen er bald darauf ſtarb. Jeder
Verſuch, mit grellen Farben ein Gemaͤlde der groͤßten See¬
lennoth zu entwerfen, iſt faſt eine leichtſinnige Verhoͤhnung
zu nennen; ſie hat in ihrer Erſcheinung faſt die Majeſtaͤt des
Unermeßlichen, welches keine beſchauende Vorſtellung umfaßt.
Wir koͤnnen daher uͤber den damaligen Seelenzuſtand der S.
nur ſo viel ſagen, daß derſelbe die Verzweiflung unter dem
Schleier der Religion war, naͤmlich jene Todesangſt, welche
ſich noch an den Glauben als den letzten Rettungsanker klam¬
mert, ohne jedoch inmitten der tobenden und verſchlingenden
Brandung des Lebens noch irgend eines klaren Gedankens, ei¬
nes beruhigten und befriedigten Gefuͤhls theilhaftig werden zu
koͤnnen. Solche Zuſtaͤnde ſind die der innerlichſten Zerruͤttung,
deren ſchneidende Widerſpruͤche ſich erſt durch die ſchreiendſten
Diſſonanzen, fuͤr welche die Sprache keine Bezeichnung, die
Phantaſie kein Bild mehr hat, und welche hoͤchſtens noch die
Muſik mit ihren Tonfiguren ausdruͤckt, hindurchkaͤmpfen muͤſ¬
ſen, um uͤberhaupt erſt die Faſſung der Vorſtellungen und Ge¬
fuͤhle zu irgend einer Form nach innerem Geſetz wieder moͤglich
zu machen. Oft genug geht die Organiſation der Seele nach
einer ſolchen Verwuͤſtung fuͤr das ganze kuͤnftige Erdenleben
in voͤlliger Geiſtesverwirrung zu Grunde. Wenn die S. nicht
auf dieſe Weiſe einer gaͤnzlichen Selbſtvergeſſenheit zum Raube
wurde, ſo verdankt ſie dies allein ihrer tief gewurzelten Froͤm¬
migkeit, welche wohl erſchuͤttert, aber nicht mehr vertilgt wer¬
den konnte. In ihr fand ſie zuletzt doch die Kraft, ſich aus
der Betaͤubung und Erſtarrung im heftigſten Schmerze wieder
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/91>, abgerufen am 05.07.2024.
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