zu einem lebendigen Bewußtsein aufzurichten, wenn auch die Kluft, welche sie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur noch weiter geworden war.
Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Stärke die Vorstellung, alle Noth sei von Gott deshalb über sie verhängt worden, weil ihr Gebet nicht inbrünstig genug, ihr Sinn noch nicht vollständig vom Irdischen abgelenkt gewesen sei. Deshalb weihte sie sich wo möglich noch mit größerem Eifer ihren from¬ men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebnissen nun den völligen Charakter des Wahnsinns annahmen. Denn je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinschaft mit Gott zu treten, um so vollständiger mußte auch die Gluth ihrer Gefühle das Bewußtsein dergestalt durchdringen, daß selbst der äußere Sinn nicht mehr dem physiologischen Gesetz der An¬ schauung gehorchte, sondern von der Außenwelt in das Reich des Uebernatürlichen abschweifend in dessen Dunkel hineinstarrte, bis dasselbe von dem Glan[ - 1 Zeichen fehlt]e des selbstgeschaffenen Wahns er¬ hellt wurde. Nachdem sie Tage und Nächte im rastlosen Be¬ ten zugebracht, und sich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬ setzt hatte, erschien ihr Gott in strahlender Majestät mit gnä¬ digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre Gebete erhört habe. Daß sie in dieser Vision eine untrügliche und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu müssen glaubte, bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweises. Eine spätere Christuserscheinung abgerechnet will sie fernere Vi¬ sionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf schließen läßt, daß die Entstehung derselben bei ihr nur unter der Be¬ dingung der furchtbarsten Gemüthserschütterung durch jene Ka¬ tastrophe möglich war. Denn ein ähnlicher Seelenzustand kehrte nicht wieder, sondern es war nun ein entscheidender Wende¬ punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der völligen Ent¬ wickelung ihres Wahns auch eine gänzliche Veränderung der Gemüthsverfassung eintreten mußte. Bis dahin hatte sie mit der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweise der Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬ ßen Sehnsucht mußte dieselbe noch steigern. Jetzt war dieselbe im vollen Maaße durch die Erscheinung Gottes erfüllt, die fol¬ ternde Angst war für immer beschwichtigt, und es bedurfte nur
zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur noch weiter geworden war.
Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬ men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬ ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte, bis daſſelbe von dem Glan[ – 1 Zeichen fehlt]e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬ hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬ ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬ ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬ digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte, bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes. Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬ ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬ dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬ taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬ punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬ wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬ ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬ ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0092"n="84"/>
zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die<lb/>
Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur<lb/>
noch weiter geworden war.</p><lb/><p>Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die<lb/>
Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt<lb/>
worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch<lb/>
nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb<lb/>
weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬<lb/>
men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen<lb/>
nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn<lb/>
je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft<lb/>
mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth<lb/>
ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt<lb/>
der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬<lb/>ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich<lb/>
des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte,<lb/>
bis daſſelbe von dem Glan<gapunit="chars"quantity="1"/>e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬<lb/>
hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬<lb/>
ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬<lb/>ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬<lb/>
digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre<lb/>
Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche<lb/>
und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte,<lb/>
bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes.<lb/>
Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬<lb/>ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen<lb/>
laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬<lb/>
dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬<lb/>
taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte<lb/>
nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬<lb/>
punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬<lb/>
wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der<lb/>
Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit<lb/>
der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der<lb/>
Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬<lb/>
ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe<lb/>
im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬<lb/>
ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur<lb/></p></div></body></text></TEI>
[84/0092]
zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die
Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur
noch weiter geworden war.
Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die
Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt
worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch
nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb
weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬
men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen
nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn
je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft
mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth
ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt
der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬
ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich
des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte,
bis daſſelbe von dem Glan_e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬
hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬
ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬
ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬
digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre
Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche
und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte,
bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes.
Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬
ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen
laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬
dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬
taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte
nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬
punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬
wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der
Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit
der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der
Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬
ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe
im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬
ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/92>, abgerufen am 05.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.