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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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und auf der linken die dürren, verzerrten, mißfarbigen Run¬
zeln einer Greisin darbot. So scheiterte daher die letzte Hoff¬
nung, welche wohl in jedem jungfräulichen Herzen sich regt,
daß die unverletzte Wohlgestalt einen Geliebten anlocken und
zum dauernden Lebensbunde bewegen werde. Sie empfand
diesen herben Verlust so schmerzlich, daß selbst ihr religiöses
Bewußtsein, der einzige Lichtpunkt in ihrem verdüsterten Leben,
sich verfinsterte. Nicht nur floh sie den Umgang mit andern
Menschen fast gänzlich, sondern im trüben Sinnen gelangte sie
auch zu der Ueberzeugung, daß Gott diese Strafe über sie ver¬
hängt habe, weil sie die Heilswahrheiten sich nicht genug zu
Herzen genommen habe, und in ihrem frommen Eifer zu lau
gewesen sei. Natürlich fand sie hierin den stärksten Antrieb,
alles Andere über anhaltende Andachtsübungen zu versäumen;
sie zog sich nicht nur von allen häuslichen Arbeiten gänzlich
zurück, sondern bestrebte sich auch, den darbenden Aeltern aus
der Bibel Trost zuzusprechen, als ob es außer inbrünstiger
Frömmigkeit kein Mittel gebe, sich aus dringender Noth zu
erretten, welche allein durch göttliche Gnadenwunder beseitigt
werden könne. Daß die weichherzigen Aeltern sich in völliger
Rathlosigkeit befanden, wie sie den irren Sinn der Tochter
zur Besonnenheit zurückleiten sollten, begreift sich leicht; ja als
es einmal mit letzterer so weit gekommen war, würde selbst ein
tüchtiger Seelenarzt in einer wohleingerichteten Irrenheilanstalt
schwerlich noch Etwas auszurichten vermocht haben, da längst
alle Interessen, durch deren Bethätigung nur noch das Ueber¬
maaß der Frömmigkeit in die richtigen Schranken hatte zurück¬
gedrängt werden können, im Herzen der Kranken erstickt waren.

Aber es warteten ihrer noch viel härtere Prüfungen, welche
ihr Gemüth bis zu einer früher ungekannten Tiefe in die furcht¬
barste Erschütterung versetzen sollten. Während sie nur noch in
heißesten Gebeten lebte, um Gott gleichsam Gnade abzuringen,
ertrank einer ihrer Brüder. Kurz vor dessen Beerdigung, de¬
ren Kosten nicht mehr zu erschwingen waren, confiscirten Ge¬
richtsdiener im Auftrage von Gläubigern die letzte Habe der
unglücklichen Aeltern, und nahmen, da sie kaum, noch Etwas
von Werth vorfanden, einem andern Bruder seine besten Klei¬
der. Letzterer setzte sich dabei zur Wehre, weil er ohne jene

und auf der linken die duͤrren, verzerrten, mißfarbigen Run¬
zeln einer Greiſin darbot. So ſcheiterte daher die letzte Hoff¬
nung, welche wohl in jedem jungfraͤulichen Herzen ſich regt,
daß die unverletzte Wohlgeſtalt einen Geliebten anlocken und
zum dauernden Lebensbunde bewegen werde. Sie empfand
dieſen herben Verluſt ſo ſchmerzlich, daß ſelbſt ihr religioͤſes
Bewußtſein, der einzige Lichtpunkt in ihrem verduͤſterten Leben,
ſich verfinſterte. Nicht nur floh ſie den Umgang mit andern
Menſchen faſt gaͤnzlich, ſondern im truͤben Sinnen gelangte ſie
auch zu der Ueberzeugung, daß Gott dieſe Strafe uͤber ſie ver¬
haͤngt habe, weil ſie die Heilswahrheiten ſich nicht genug zu
Herzen genommen habe, und in ihrem frommen Eifer zu lau
geweſen ſei. Natuͤrlich fand ſie hierin den ſtaͤrkſten Antrieb,
alles Andere uͤber anhaltende Andachtsuͤbungen zu verſaͤumen;
ſie zog ſich nicht nur von allen haͤuslichen Arbeiten gaͤnzlich
zuruͤck, ſondern beſtrebte ſich auch, den darbenden Aeltern aus
der Bibel Troſt zuzuſprechen, als ob es außer inbruͤnſtiger
Froͤmmigkeit kein Mittel gebe, ſich aus dringender Noth zu
erretten, welche allein durch goͤttliche Gnadenwunder beſeitigt
werden koͤnne. Daß die weichherzigen Aeltern ſich in voͤlliger
Rathloſigkeit befanden, wie ſie den irren Sinn der Tochter
zur Beſonnenheit zuruͤckleiten ſollten, begreift ſich leicht; ja als
es einmal mit letzterer ſo weit gekommen war, wuͤrde ſelbſt ein
tuͤchtiger Seelenarzt in einer wohleingerichteten Irrenheilanſtalt
ſchwerlich noch Etwas auszurichten vermocht haben, da laͤngſt
alle Intereſſen, durch deren Bethaͤtigung nur noch das Ueber¬
maaß der Froͤmmigkeit in die richtigen Schranken hatte zuruͤck¬
gedraͤngt werden koͤnnen, im Herzen der Kranken erſtickt waren.

Aber es warteten ihrer noch viel haͤrtere Pruͤfungen, welche
ihr Gemuͤth bis zu einer fruͤher ungekannten Tiefe in die furcht¬
barſte Erſchuͤtterung verſetzen ſollten. Waͤhrend ſie nur noch in
heißeſten Gebeten lebte, um Gott gleichſam Gnade abzuringen,
ertrank einer ihrer Bruͤder. Kurz vor deſſen Beerdigung, de¬
ren Koſten nicht mehr zu erſchwingen waren, confiscirten Ge¬
richtsdiener im Auftrage von Glaͤubigern die letzte Habe der
ungluͤcklichen Aeltern, und nahmen, da ſie kaum, noch Etwas
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der. Letzterer ſetzte ſich dabei zur Wehre, weil er ohne jene

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[82/0090] und auf der linken die duͤrren, verzerrten, mißfarbigen Run¬ zeln einer Greiſin darbot. So ſcheiterte daher die letzte Hoff¬ nung, welche wohl in jedem jungfraͤulichen Herzen ſich regt, daß die unverletzte Wohlgeſtalt einen Geliebten anlocken und zum dauernden Lebensbunde bewegen werde. Sie empfand dieſen herben Verluſt ſo ſchmerzlich, daß ſelbſt ihr religioͤſes Bewußtſein, der einzige Lichtpunkt in ihrem verduͤſterten Leben, ſich verfinſterte. Nicht nur floh ſie den Umgang mit andern Menſchen faſt gaͤnzlich, ſondern im truͤben Sinnen gelangte ſie auch zu der Ueberzeugung, daß Gott dieſe Strafe uͤber ſie ver¬ haͤngt habe, weil ſie die Heilswahrheiten ſich nicht genug zu Herzen genommen habe, und in ihrem frommen Eifer zu lau geweſen ſei. Natuͤrlich fand ſie hierin den ſtaͤrkſten Antrieb, alles Andere uͤber anhaltende Andachtsuͤbungen zu verſaͤumen; ſie zog ſich nicht nur von allen haͤuslichen Arbeiten gaͤnzlich zuruͤck, ſondern beſtrebte ſich auch, den darbenden Aeltern aus der Bibel Troſt zuzuſprechen, als ob es außer inbruͤnſtiger Froͤmmigkeit kein Mittel gebe, ſich aus dringender Noth zu erretten, welche allein durch goͤttliche Gnadenwunder beſeitigt werden koͤnne. Daß die weichherzigen Aeltern ſich in voͤlliger Rathloſigkeit befanden, wie ſie den irren Sinn der Tochter zur Beſonnenheit zuruͤckleiten ſollten, begreift ſich leicht; ja als es einmal mit letzterer ſo weit gekommen war, wuͤrde ſelbſt ein tuͤchtiger Seelenarzt in einer wohleingerichteten Irrenheilanſtalt ſchwerlich noch Etwas auszurichten vermocht haben, da laͤngſt alle Intereſſen, durch deren Bethaͤtigung nur noch das Ueber¬ maaß der Froͤmmigkeit in die richtigen Schranken hatte zuruͤck¬ gedraͤngt werden koͤnnen, im Herzen der Kranken erſtickt waren. Aber es warteten ihrer noch viel haͤrtere Pruͤfungen, welche ihr Gemuͤth bis zu einer fruͤher ungekannten Tiefe in die furcht¬ barſte Erſchuͤtterung verſetzen ſollten. Waͤhrend ſie nur noch in heißeſten Gebeten lebte, um Gott gleichſam Gnade abzuringen, ertrank einer ihrer Bruͤder. Kurz vor deſſen Beerdigung, de¬ ren Koſten nicht mehr zu erſchwingen waren, confiscirten Ge¬ richtsdiener im Auftrage von Glaͤubigern die letzte Habe der ungluͤcklichen Aeltern, und nahmen, da ſie kaum, noch Etwas von Werth vorfanden, einem andern Bruder ſeine beſten Klei¬ der. Letzterer ſetzte ſich dabei zur Wehre, weil er ohne jene

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/90>, abgerufen am 05.05.2024.