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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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womit ihre Aeltern sich so oft trösteten, gerieth sie in eksta¬
tisches Entzücken, ihre Augen strahlten, ihre Lippen flossen von
begeisterter Rede über, und es ist bei dem schlichten Sinne
ihrer Angehörigen wenigstens verzeihlich, wenn sie in ihr einen
wahren Engel zu erblicken glaubten. Wer mag berechnen,
in wiefern sie dadurch die im weiblichen Herzen nie ganz
schlummernde Eitelkeit bei unsrer Kranken weckten, und an¬
statt ihre Schwärmerei durch weise Disciplin zu beschränken,
ihr durch die Vorstellung einer Bevorzugung bei Gott nur
noch eine stärkere Gluth einhauchten, und somit den Ausbruch
ihres späteren Wahnsinns beförderten? Unter diesen Bedingun¬
gen konnte der empfangene Religionsunterricht an ihrer Denk¬
weise nichts Wesentliches mehr ändern, denn der entschiedene
Sinn eignet sich von allen äußeren Anregungen nur das an,
was ihm zusagt, um sich gegen jede anderweitige Betrachtung
hartnäckig zu verschließen.

Obgleich ihre körperliche Entwickelung unter den geschil¬
derten ungünstigen Bedingungen zurückblieb, so litt sie doch
nicht eben an hervorstechenden Krankheitszufällen, außer daß
sie eine Zeit lang vor dem im 18. Jahre erfolgten Eintritt
ihrer Menstruation mit Anfällen von Nachtwandeln behaftet
war, welche sich aus der Ueberreizung des Nervensystems durch
anhaltende Schwärmerei bei unthätiger Lebensweise um so
leichter erklären lassen, da ähnliche Erscheinungen bei jungen
Mädchen, während ihrer Pubertätsentwickelung, nicht selten
beobachtet werden. Auch verschwand das Nachtwandeln beim
Beginnen der Menstruation, obgleich letztere nicht regelmäßig
wiederkehrte. Statt dessen stellte sich jedoch etwas später ein
Leiden ein, welches auf ihr Gemüth einen tiefen Eindruck
machte. In Folge wiederholter Erkältung entstand nämlich
ohne andere schlimme Zufälle jene eigenthümliche, fast immer
unheilbare Lähmung der Gesichtsnerven (auf der linken Seite),
welche immer eine widrige Entstellung des Gesichts durch das
Vertrocknen und Einschrumpfen der Wangenmuskeln zur Folge
hat. Sie wurde in Berlin von einem berühmten Arzte lange
Zeit erfolglos behandelt, und behielt nun bleibend jene ab¬
schreckende Verunstaltung des Gesichts, welches auf der rech¬
ten Seite die Frische und Fülle einer jugendlichen Wange,

Ideler über d. rel. Wahnsinn. 6

womit ihre Aeltern ſich ſo oft troͤſteten, gerieth ſie in ekſta¬
tiſches Entzuͤcken, ihre Augen ſtrahlten, ihre Lippen floſſen von
begeiſterter Rede uͤber, und es iſt bei dem ſchlichten Sinne
ihrer Angehoͤrigen wenigſtens verzeihlich, wenn ſie in ihr einen
wahren Engel zu erblicken glaubten. Wer mag berechnen,
in wiefern ſie dadurch die im weiblichen Herzen nie ganz
ſchlummernde Eitelkeit bei unſrer Kranken weckten, und an¬
ſtatt ihre Schwaͤrmerei durch weiſe Disciplin zu beſchraͤnken,
ihr durch die Vorſtellung einer Bevorzugung bei Gott nur
noch eine ſtaͤrkere Gluth einhauchten, und ſomit den Ausbruch
ihres ſpaͤteren Wahnſinns befoͤrderten? Unter dieſen Bedingun¬
gen konnte der empfangene Religionsunterricht an ihrer Denk¬
weiſe nichts Weſentliches mehr aͤndern, denn der entſchiedene
Sinn eignet ſich von allen aͤußeren Anregungen nur das an,
was ihm zuſagt, um ſich gegen jede anderweitige Betrachtung
hartnaͤckig zu verſchließen.

Obgleich ihre koͤrperliche Entwickelung unter den geſchil¬
derten unguͤnſtigen Bedingungen zuruͤckblieb, ſo litt ſie doch
nicht eben an hervorſtechenden Krankheitszufaͤllen, außer daß
ſie eine Zeit lang vor dem im 18. Jahre erfolgten Eintritt
ihrer Menſtruation mit Anfaͤllen von Nachtwandeln behaftet
war, welche ſich aus der Ueberreizung des Nervenſyſtems durch
anhaltende Schwaͤrmerei bei unthaͤtiger Lebensweiſe um ſo
leichter erklaͤren laſſen, da aͤhnliche Erſcheinungen bei jungen
Maͤdchen, waͤhrend ihrer Pubertaͤtsentwickelung, nicht ſelten
beobachtet werden. Auch verſchwand das Nachtwandeln beim
Beginnen der Menſtruation, obgleich letztere nicht regelmaͤßig
wiederkehrte. Statt deſſen ſtellte ſich jedoch etwas ſpaͤter ein
Leiden ein, welches auf ihr Gemuͤth einen tiefen Eindruck
machte. In Folge wiederholter Erkaͤltung entſtand naͤmlich
ohne andere ſchlimme Zufaͤlle jene eigenthuͤmliche, faſt immer
unheilbare Laͤhmung der Geſichtsnerven (auf der linken Seite),
welche immer eine widrige Entſtellung des Geſichts durch das
Vertrocknen und Einſchrumpfen der Wangenmuskeln zur Folge
hat. Sie wurde in Berlin von einem beruͤhmten Arzte lange
Zeit erfolglos behandelt, und behielt nun bleibend jene ab¬
ſchreckende Verunſtaltung des Geſichts, welches auf der rech¬
ten Seite die Friſche und Fuͤlle einer jugendlichen Wange,

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[81/0089] womit ihre Aeltern ſich ſo oft troͤſteten, gerieth ſie in ekſta¬ tiſches Entzuͤcken, ihre Augen ſtrahlten, ihre Lippen floſſen von begeiſterter Rede uͤber, und es iſt bei dem ſchlichten Sinne ihrer Angehoͤrigen wenigſtens verzeihlich, wenn ſie in ihr einen wahren Engel zu erblicken glaubten. Wer mag berechnen, in wiefern ſie dadurch die im weiblichen Herzen nie ganz ſchlummernde Eitelkeit bei unſrer Kranken weckten, und an¬ ſtatt ihre Schwaͤrmerei durch weiſe Disciplin zu beſchraͤnken, ihr durch die Vorſtellung einer Bevorzugung bei Gott nur noch eine ſtaͤrkere Gluth einhauchten, und ſomit den Ausbruch ihres ſpaͤteren Wahnſinns befoͤrderten? Unter dieſen Bedingun¬ gen konnte der empfangene Religionsunterricht an ihrer Denk¬ weiſe nichts Weſentliches mehr aͤndern, denn der entſchiedene Sinn eignet ſich von allen aͤußeren Anregungen nur das an, was ihm zuſagt, um ſich gegen jede anderweitige Betrachtung hartnaͤckig zu verſchließen. Obgleich ihre koͤrperliche Entwickelung unter den geſchil¬ derten unguͤnſtigen Bedingungen zuruͤckblieb, ſo litt ſie doch nicht eben an hervorſtechenden Krankheitszufaͤllen, außer daß ſie eine Zeit lang vor dem im 18. Jahre erfolgten Eintritt ihrer Menſtruation mit Anfaͤllen von Nachtwandeln behaftet war, welche ſich aus der Ueberreizung des Nervenſyſtems durch anhaltende Schwaͤrmerei bei unthaͤtiger Lebensweiſe um ſo leichter erklaͤren laſſen, da aͤhnliche Erſcheinungen bei jungen Maͤdchen, waͤhrend ihrer Pubertaͤtsentwickelung, nicht ſelten beobachtet werden. Auch verſchwand das Nachtwandeln beim Beginnen der Menſtruation, obgleich letztere nicht regelmaͤßig wiederkehrte. Statt deſſen ſtellte ſich jedoch etwas ſpaͤter ein Leiden ein, welches auf ihr Gemuͤth einen tiefen Eindruck machte. In Folge wiederholter Erkaͤltung entſtand naͤmlich ohne andere ſchlimme Zufaͤlle jene eigenthuͤmliche, faſt immer unheilbare Laͤhmung der Geſichtsnerven (auf der linken Seite), welche immer eine widrige Entſtellung des Geſichts durch das Vertrocknen und Einſchrumpfen der Wangenmuskeln zur Folge hat. Sie wurde in Berlin von einem beruͤhmten Arzte lange Zeit erfolglos behandelt, und behielt nun bleibend jene ab¬ ſchreckende Verunſtaltung des Geſichts, welches auf der rech¬ ten Seite die Friſche und Fuͤlle einer jugendlichen Wange, Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 6

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/89>, abgerufen am 06.05.2024.