Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.und mußt getauft werden." Sie erschrak darüber heftig, weil Ihren immer stärker hervortretenden Glaubenseifer suchte und mußt getauft werden.” Sie erſchrak daruͤber heftig, weil Ihren immer ſtaͤrker hervortretenden Glaubenseifer ſuchte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0068" n="60"/> und mußt getauft werden.” Sie erſchrak daruͤber heftig, weil<lb/> ſie nicht wußte, was ſie dabei denken, und wie die Taufe<lb/> nochmals an ihr vollzogen werden ſolle; dennoch ſah ſie ſich<lb/> unwillkuͤrlich nach dem Taufſtein um. Nach Faſſung ringend,<lb/> erinnerte ſie ſich an das Vorbild von Chriſtus, welcher gehor¬<lb/> ſam war bis zum Tode am Kreuze. Ganz erfuͤllt von dieſem<lb/> Gedanken erblickte ſie auf dem Ruͤckwege nach Hauſe den Hei¬<lb/> land, wie er aufgefahren iſt, ſitzend zur Rechten Gottes; aber<lb/> ſein Haupt war geneigt, und ſah ſehr leidend aus, wobei ſie<lb/> ſich dachte, ohne Heiligung wird Niemand den Herrn ſehen.<lb/> Beide Viſionen waren von ſehr kurzer Dauer, ſo daß ſie keine<lb/> genauere Aufmerkſamkeit darauf richten konnte; jedoch erinnert<lb/> ſie ſich namentlich die beim Abendmahl verſammelten Juͤnger<lb/> deutlich unterſchieden zu haben, wobei ihre Phantaſie wahr¬<lb/> ſcheinlich das bekannte Bild von Leonardo da Vinci reprodu¬<lb/> cirte. Sie hielt die Viſionen fuͤr ein von Gott ihr offenbartes<lb/> Geheimniß, welches zur Staͤrkung ihres Glaubens dienen ſolle,<lb/> und ſie fuͤhlte ſich deshalb in eine ſo ſeelige Stimmung ver¬<lb/> ſetzt, daß ſie dieſelbe gegen keine Guͤter der Welt vertauſcht<lb/> haͤtte.</p><lb/> <p>Ihren immer ſtaͤrker hervortretenden Glaubenseifer ſuchte<lb/> ſie im Jahre 1836 dadurch zu bethaͤtigen, daß ſie an jedem<lb/> Sonntag-Morgen mehrere junge Maͤdchen, oft 12 an der Zahl,<lb/> um ſich verſammelte, ſie zuerſt einige Verſe aus dem Geſang¬<lb/> buche ſingen ließ, hierauf mit ihnen betete, ein Kapitel aus<lb/> der Bibel vorlas, uͤber welches ſie die Kinder katechiſirte, zum<lb/> Schluſſe wieder einige Verſe ſingen ließ, worauf ſie jene ver¬<lb/> abſchiedete, um ſelbſt in die Kirche zu gehen. Es ſollen da¬<lb/> mals mehrere ſolcher Verſammlungen unter dem Namen der<lb/> Sonntags-Kindervereine gehalten worden ſein, bis die Behoͤr¬<lb/> den aus leicht begreiflichen Gruͤnden dagegen einſchritten. Die<lb/> W. empfand indeß ſo vielen Geſchmack am Unterrichte, daß ſie<lb/> ſich von dem Vorſteher ihrer Sonntagsſchule ein Empfehlungs¬<lb/> ſchreiben an einen Schuldirector verſchaffte, welcher fuͤr kuͤnftige<lb/> Lehrerinnen Vortraͤge uͤber Paͤdagogik, Didaktik und Kirchen¬<lb/> geſchichte hielt, denen ſie mit großem Eifer beiwohnte, obgleich<lb/> dabei wahrſcheinlich ihr Faſſungsvermoͤgen uͤberboten wurde.<lb/> Mit angeſtrengtem Fleiße bemuͤhte ſie ſich, das Gehoͤrte ſchrift¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [60/0068]
und mußt getauft werden.” Sie erſchrak daruͤber heftig, weil
ſie nicht wußte, was ſie dabei denken, und wie die Taufe
nochmals an ihr vollzogen werden ſolle; dennoch ſah ſie ſich
unwillkuͤrlich nach dem Taufſtein um. Nach Faſſung ringend,
erinnerte ſie ſich an das Vorbild von Chriſtus, welcher gehor¬
ſam war bis zum Tode am Kreuze. Ganz erfuͤllt von dieſem
Gedanken erblickte ſie auf dem Ruͤckwege nach Hauſe den Hei¬
land, wie er aufgefahren iſt, ſitzend zur Rechten Gottes; aber
ſein Haupt war geneigt, und ſah ſehr leidend aus, wobei ſie
ſich dachte, ohne Heiligung wird Niemand den Herrn ſehen.
Beide Viſionen waren von ſehr kurzer Dauer, ſo daß ſie keine
genauere Aufmerkſamkeit darauf richten konnte; jedoch erinnert
ſie ſich namentlich die beim Abendmahl verſammelten Juͤnger
deutlich unterſchieden zu haben, wobei ihre Phantaſie wahr¬
ſcheinlich das bekannte Bild von Leonardo da Vinci reprodu¬
cirte. Sie hielt die Viſionen fuͤr ein von Gott ihr offenbartes
Geheimniß, welches zur Staͤrkung ihres Glaubens dienen ſolle,
und ſie fuͤhlte ſich deshalb in eine ſo ſeelige Stimmung ver¬
ſetzt, daß ſie dieſelbe gegen keine Guͤter der Welt vertauſcht
haͤtte.
Ihren immer ſtaͤrker hervortretenden Glaubenseifer ſuchte
ſie im Jahre 1836 dadurch zu bethaͤtigen, daß ſie an jedem
Sonntag-Morgen mehrere junge Maͤdchen, oft 12 an der Zahl,
um ſich verſammelte, ſie zuerſt einige Verſe aus dem Geſang¬
buche ſingen ließ, hierauf mit ihnen betete, ein Kapitel aus
der Bibel vorlas, uͤber welches ſie die Kinder katechiſirte, zum
Schluſſe wieder einige Verſe ſingen ließ, worauf ſie jene ver¬
abſchiedete, um ſelbſt in die Kirche zu gehen. Es ſollen da¬
mals mehrere ſolcher Verſammlungen unter dem Namen der
Sonntags-Kindervereine gehalten worden ſein, bis die Behoͤr¬
den aus leicht begreiflichen Gruͤnden dagegen einſchritten. Die
W. empfand indeß ſo vielen Geſchmack am Unterrichte, daß ſie
ſich von dem Vorſteher ihrer Sonntagsſchule ein Empfehlungs¬
ſchreiben an einen Schuldirector verſchaffte, welcher fuͤr kuͤnftige
Lehrerinnen Vortraͤge uͤber Paͤdagogik, Didaktik und Kirchen¬
geſchichte hielt, denen ſie mit großem Eifer beiwohnte, obgleich
dabei wahrſcheinlich ihr Faſſungsvermoͤgen uͤberboten wurde.
Mit angeſtrengtem Fleiße bemuͤhte ſie ſich, das Gehoͤrte ſchrift¬
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