lich auszuarbeiten, wobei sie zwar viele Schwierigkeiten zu über¬ winden hatte, aber zugleich eine innige Freudigkeit empfand, weil sie für eine, ihrem lebendigsten Interesse so ganz entspre¬ chende Wirksamkeit sich auszubilden hoffte, und eben deshalb sich sehr kümmerlich behalf, weil sie ihre Erwerbsthätigkeit bis auf die dringendsten Bedürfnisse einschränkte. Gleichzeitig las sie mehrere pädagogische Schriften, suchte mit Schulamts-Can¬ didaten in nähere Berührung zu kommen, und bot mit einem Worte Alles auf, um selbst Lehrerin zu werden.
Im Jahre 1841 wohnte sie bei einer Altlutheranerin, welche ihren Glauben als den allein seelig machenden pries, und dabei hinzufügte, daß Alle, welche nicht denselben theilten, verdammt werden würden. Ein oft zum Besuch einsprechender gleichgesinnter Schuhmachergeselle sprach wiederholt im fanati¬ schen Eifer das heftigste Anathema gegen die Wiedertäufer aus, von denen er sagte, sie gingen in Engelsgestalt umher, aber hinter ihnen sei der Teufel. Von beiden mehrmals zum Be¬ such des altlutherischen Gottesdienstes aufgefordert, entschloß sie sich endlich, einmal an demselben Theil zu nehmen. Der dabei gehaltene Vortrag bezog sich auf einen ärgerlichen Auftritt in einer kleinen Provinzialstadt, woselbst der Pöbel die Fenster des Bet¬ saals der Altlutheraner eingeworfen hatte, nachdem ihnen vom Magistrate die Austheilung des Abendmahls nach ihrem Ritus untersagt worden war. Der Redner hielt über jenes Ereigniß eine donnernde Predigt, in welcher er den göttlichen Zorn auf die Störer des altlutherischen Cultus herabrief. Die fanati¬ schen Exclamationen jenes Mannes empörten die W. in ihrem Innern, da sie in ihnen, gleichwie in den lieblosen Urtheilen des Schuhmachers nur eine höchst unchristliche Gesinnung er¬ blicken konnte, und sie wies daher entschieden die Einladung zu ferneren Besuchen jener Versammlung zurück, in welcher ihr eine so gehässige Gesinnung entgegengetreten war. Ja sie fand sogar in der Verdächtigung der Wiedertäufer eine in¬ directe Apologie derselben, und sie beschloß daher, letztere kennen zu lernen, um sich ein sicheres Urtheil hierüber zu bilden. Sie wurde von denselben mit großer Zuvorkommenheit aufgenom¬ men, in welcher sie zwar einige Verstellung wahrzunehmen glaubte; indeß da die Andachtsübungen derselben ihrer Sinnes¬
lich auszuarbeiten, wobei ſie zwar viele Schwierigkeiten zu uͤber¬ winden hatte, aber zugleich eine innige Freudigkeit empfand, weil ſie fuͤr eine, ihrem lebendigſten Intereſſe ſo ganz entſpre¬ chende Wirkſamkeit ſich auszubilden hoffte, und eben deshalb ſich ſehr kuͤmmerlich behalf, weil ſie ihre Erwerbsthaͤtigkeit bis auf die dringendſten Beduͤrfniſſe einſchraͤnkte. Gleichzeitig las ſie mehrere paͤdagogiſche Schriften, ſuchte mit Schulamts-Can¬ didaten in naͤhere Beruͤhrung zu kommen, und bot mit einem Worte Alles auf, um ſelbſt Lehrerin zu werden.
Im Jahre 1841 wohnte ſie bei einer Altlutheranerin, welche ihren Glauben als den allein ſeelig machenden pries, und dabei hinzufuͤgte, daß Alle, welche nicht denſelben theilten, verdammt werden wuͤrden. Ein oft zum Beſuch einſprechender gleichgeſinnter Schuhmachergeſelle ſprach wiederholt im fanati¬ ſchen Eifer das heftigſte Anathema gegen die Wiedertaͤufer aus, von denen er ſagte, ſie gingen in Engelsgeſtalt umher, aber hinter ihnen ſei der Teufel. Von beiden mehrmals zum Be¬ ſuch des altlutheriſchen Gottesdienſtes aufgefordert, entſchloß ſie ſich endlich, einmal an demſelben Theil zu nehmen. Der dabei gehaltene Vortrag bezog ſich auf einen aͤrgerlichen Auftritt in einer kleinen Provinzialſtadt, woſelbſt der Poͤbel die Fenſter des Bet¬ ſaals der Altlutheraner eingeworfen hatte, nachdem ihnen vom Magiſtrate die Austheilung des Abendmahls nach ihrem Ritus unterſagt worden war. Der Redner hielt uͤber jenes Ereigniß eine donnernde Predigt, in welcher er den goͤttlichen Zorn auf die Stoͤrer des altlutheriſchen Cultus herabrief. Die fanati¬ ſchen Exclamationen jenes Mannes empoͤrten die W. in ihrem Innern, da ſie in ihnen, gleichwie in den liebloſen Urtheilen des Schuhmachers nur eine hoͤchſt unchriſtliche Geſinnung er¬ blicken konnte, und ſie wies daher entſchieden die Einladung zu ferneren Beſuchen jener Verſammlung zuruͤck, in welcher ihr eine ſo gehaͤſſige Geſinnung entgegengetreten war. Ja ſie fand ſogar in der Verdaͤchtigung der Wiedertaͤufer eine in¬ directe Apologie derſelben, und ſie beſchloß daher, letztere kennen zu lernen, um ſich ein ſicheres Urtheil hieruͤber zu bilden. Sie wurde von denſelben mit großer Zuvorkommenheit aufgenom¬ men, in welcher ſie zwar einige Verſtellung wahrzunehmen glaubte; indeß da die Andachtsuͤbungen derſelben ihrer Sinnes¬
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lich auszuarbeiten, wobei ſie zwar viele Schwierigkeiten zu uͤber¬
winden hatte, aber zugleich eine innige Freudigkeit empfand,
weil ſie fuͤr eine, ihrem lebendigſten Intereſſe ſo ganz entſpre¬
chende Wirkſamkeit ſich auszubilden hoffte, und eben deshalb
ſich ſehr kuͤmmerlich behalf, weil ſie ihre Erwerbsthaͤtigkeit bis
auf die dringendſten Beduͤrfniſſe einſchraͤnkte. Gleichzeitig las
ſie mehrere paͤdagogiſche Schriften, ſuchte mit Schulamts-Can¬
didaten in naͤhere Beruͤhrung zu kommen, und bot mit einem
Worte Alles auf, um ſelbſt Lehrerin zu werden.
Im Jahre 1841 wohnte ſie bei einer Altlutheranerin,
welche ihren Glauben als den allein ſeelig machenden pries,
und dabei hinzufuͤgte, daß Alle, welche nicht denſelben theilten,
verdammt werden wuͤrden. Ein oft zum Beſuch einſprechender
gleichgeſinnter Schuhmachergeſelle ſprach wiederholt im fanati¬
ſchen Eifer das heftigſte Anathema gegen die Wiedertaͤufer aus,
von denen er ſagte, ſie gingen in Engelsgeſtalt umher, aber
hinter ihnen ſei der Teufel. Von beiden mehrmals zum Be¬
ſuch des altlutheriſchen Gottesdienſtes aufgefordert, entſchloß ſie
ſich endlich, einmal an demſelben Theil zu nehmen. Der dabei
gehaltene Vortrag bezog ſich auf einen aͤrgerlichen Auftritt in einer
kleinen Provinzialſtadt, woſelbſt der Poͤbel die Fenſter des Bet¬
ſaals der Altlutheraner eingeworfen hatte, nachdem ihnen vom
Magiſtrate die Austheilung des Abendmahls nach ihrem Ritus
unterſagt worden war. Der Redner hielt uͤber jenes Ereigniß
eine donnernde Predigt, in welcher er den goͤttlichen Zorn auf
die Stoͤrer des altlutheriſchen Cultus herabrief. Die fanati¬
ſchen Exclamationen jenes Mannes empoͤrten die W. in ihrem
Innern, da ſie in ihnen, gleichwie in den liebloſen Urtheilen
des Schuhmachers nur eine hoͤchſt unchriſtliche Geſinnung er¬
blicken konnte, und ſie wies daher entſchieden die Einladung
zu ferneren Beſuchen jener Verſammlung zuruͤck, in welcher
ihr eine ſo gehaͤſſige Geſinnung entgegengetreten war. Ja
ſie fand ſogar in der Verdaͤchtigung der Wiedertaͤufer eine in¬
directe Apologie derſelben, und ſie beſchloß daher, letztere kennen
zu lernen, um ſich ein ſicheres Urtheil hieruͤber zu bilden. Sie
wurde von denſelben mit großer Zuvorkommenheit aufgenom¬
men, in welcher ſie zwar einige Verſtellung wahrzunehmen
glaubte; indeß da die Andachtsuͤbungen derſelben ihrer Sinnes¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/69>, abgerufen am 05.07.2024.
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