Selbstprüfung auf, welche bei reizbarer Schwäche des Charak¬ ters eine tiefe Erschütterung des moralischen Gefühls nur allzu¬ leicht herbeiführt, und durch erregten Zwiespalt im Herzen oft genug die Kraft des Willens bricht. So geschah es auch bei der W., welche in großer Beklemmung mehrere Nächte schlaflos zubrachte, und auch an den Tagen keine Ruhe fand, daher schon damals (im Frühlinge 1832) die ersten Erscheinungen des Wahnsinns, gleichsam ein fernes Wetterleuchten aus dunstig schwülem Himmel, hervortraten. Denn als die W. an einem Abende, nachdem sie am Schlusse der Arbeit in einem fremden Hause von den Bewohnern desselben sich mit der Aeußerung verabschiedete, sie werde wegen großer Körperschwäche schwerlich wiederkommen, tief bekümmert nach ihrer Wohnung zurückkehrte, schaute sie auf der Straße zum Himmel auf, und erblickte das Abendmahl des Herrn, welches er mit seinen Jüngern am Ti¬ sche sitzend feierte. Unter diesem Bilde waren mehrere Linien gezogen, welche ihrer Meinung nach bedeuteten, daß die Glau¬ bensstufen der Menschen nach dem Grade ihrer Frömmigkeit ver¬ schieden seien. Diese Vision war unstreitig aus dem tief gefühlten Bedürfnisse einer höheren sittlichen Läuterung entsprungen, wel¬ che mit eigener Kraft vollbringen zu können sie nicht hoffte, daher sie von der Nothwendigkeit, der Gnade Gottes durch das Sacrament theilhaftig zu werden, durchdrungen war, und des¬ halb in jenem Bilde die Verklärung des Abendmahls erblickte, wie es beim leiblichen Genusse auf Erden zugleich mit frommer Erhebung in den Himmel gefeiert werden müsse. Dennoch war ihr so viel Reflexion geblieben, daß sie darüber erstaunte, wie sie gleichzeitig in einen träumenden Zustand versetzt sein, und dennoch wach auf der Straße wandeln könne; indeß konnte eine solche objective Dialektik für sie, welche mit ganz anderen Interessen beschäftigt war, keine große Bedeutung haben.
Nach schlafloser Nacht besuchte sie am unmittelbar darauf folgenden Himmelfahrtstage die Kirche, wo sie aber, ganz er¬ füllt vom mächtigen Gefühlsdrange, kaum auf die Predigt hörte. Ihr vorherrschender Gedanke muß die Nothwendigkeit einer Gna¬ denwirkung Gottes durch die Sacramente und ihre hohe Be¬ dürftigkeit derselben gewesen sein, denn plötzlich vernahm sie in ihrem Herzen einen mächtigen Ruf: "du bist ein Jude,
Selbſtpruͤfung auf, welche bei reizbarer Schwaͤche des Charak¬ ters eine tiefe Erſchuͤtterung des moraliſchen Gefuͤhls nur allzu¬ leicht herbeifuͤhrt, und durch erregten Zwieſpalt im Herzen oft genug die Kraft des Willens bricht. So geſchah es auch bei der W., welche in großer Beklemmung mehrere Naͤchte ſchlaflos zubrachte, und auch an den Tagen keine Ruhe fand, daher ſchon damals (im Fruͤhlinge 1832) die erſten Erſcheinungen des Wahnſinns, gleichſam ein fernes Wetterleuchten aus dunſtig ſchwuͤlem Himmel, hervortraten. Denn als die W. an einem Abende, nachdem ſie am Schluſſe der Arbeit in einem fremden Hauſe von den Bewohnern deſſelben ſich mit der Aeußerung verabſchiedete, ſie werde wegen großer Koͤrperſchwaͤche ſchwerlich wiederkommen, tief bekuͤmmert nach ihrer Wohnung zuruͤckkehrte, ſchaute ſie auf der Straße zum Himmel auf, und erblickte das Abendmahl des Herrn, welches er mit ſeinen Juͤngern am Ti¬ ſche ſitzend feierte. Unter dieſem Bilde waren mehrere Linien gezogen, welche ihrer Meinung nach bedeuteten, daß die Glau¬ bensſtufen der Menſchen nach dem Grade ihrer Froͤmmigkeit ver¬ ſchieden ſeien. Dieſe Viſion war unſtreitig aus dem tief gefuͤhlten Beduͤrfniſſe einer hoͤheren ſittlichen Laͤuterung entſprungen, wel¬ che mit eigener Kraft vollbringen zu koͤnnen ſie nicht hoffte, daher ſie von der Nothwendigkeit, der Gnade Gottes durch das Sacrament theilhaftig zu werden, durchdrungen war, und des¬ halb in jenem Bilde die Verklaͤrung des Abendmahls erblickte, wie es beim leiblichen Genuſſe auf Erden zugleich mit frommer Erhebung in den Himmel gefeiert werden muͤſſe. Dennoch war ihr ſo viel Reflexion geblieben, daß ſie daruͤber erſtaunte, wie ſie gleichzeitig in einen traͤumenden Zuſtand verſetzt ſein, und dennoch wach auf der Straße wandeln koͤnne; indeß konnte eine ſolche objective Dialektik fuͤr ſie, welche mit ganz anderen Intereſſen beſchaͤftigt war, keine große Bedeutung haben.
Nach ſchlafloſer Nacht beſuchte ſie am unmittelbar darauf folgenden Himmelfahrtstage die Kirche, wo ſie aber, ganz er¬ fuͤllt vom maͤchtigen Gefuͤhlsdrange, kaum auf die Predigt hoͤrte. Ihr vorherrſchender Gedanke muß die Nothwendigkeit einer Gna¬ denwirkung Gottes durch die Sacramente und ihre hohe Be¬ duͤrftigkeit derſelben geweſen ſein, denn ploͤtzlich vernahm ſie in ihrem Herzen einen maͤchtigen Ruf: „du biſt ein Jude,
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Selbſtpruͤfung auf, welche bei reizbarer Schwaͤche des Charak¬
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leicht herbeifuͤhrt, und durch erregten Zwieſpalt im Herzen oft
genug die Kraft des Willens bricht. So geſchah es auch bei
der W., welche in großer Beklemmung mehrere Naͤchte ſchlaflos
zubrachte, und auch an den Tagen keine Ruhe fand, daher ſchon
damals (im Fruͤhlinge 1832) die erſten Erſcheinungen des
Wahnſinns, gleichſam ein fernes Wetterleuchten aus dunſtig
ſchwuͤlem Himmel, hervortraten. Denn als die W. an einem
Abende, nachdem ſie am Schluſſe der Arbeit in einem fremden
Hauſe von den Bewohnern deſſelben ſich mit der Aeußerung
verabſchiedete, ſie werde wegen großer Koͤrperſchwaͤche ſchwerlich
wiederkommen, tief bekuͤmmert nach ihrer Wohnung zuruͤckkehrte,
ſchaute ſie auf der Straße zum Himmel auf, und erblickte das
Abendmahl des Herrn, welches er mit ſeinen Juͤngern am Ti¬
ſche ſitzend feierte. Unter dieſem Bilde waren mehrere Linien
gezogen, welche ihrer Meinung nach bedeuteten, daß die Glau¬
bensſtufen der Menſchen nach dem Grade ihrer Froͤmmigkeit ver¬
ſchieden ſeien. Dieſe Viſion war unſtreitig aus dem tief gefuͤhlten
Beduͤrfniſſe einer hoͤheren ſittlichen Laͤuterung entſprungen, wel¬
che mit eigener Kraft vollbringen zu koͤnnen ſie nicht hoffte,
daher ſie von der Nothwendigkeit, der Gnade Gottes durch das
Sacrament theilhaftig zu werden, durchdrungen war, und des¬
halb in jenem Bilde die Verklaͤrung des Abendmahls erblickte,
wie es beim leiblichen Genuſſe auf Erden zugleich mit frommer
Erhebung in den Himmel gefeiert werden muͤſſe. Dennoch
war ihr ſo viel Reflexion geblieben, daß ſie daruͤber erſtaunte,
wie ſie gleichzeitig in einen traͤumenden Zuſtand verſetzt ſein,
und dennoch wach auf der Straße wandeln koͤnne; indeß konnte
eine ſolche objective Dialektik fuͤr ſie, welche mit ganz anderen
Intereſſen beſchaͤftigt war, keine große Bedeutung haben.
Nach ſchlafloſer Nacht beſuchte ſie am unmittelbar darauf
folgenden Himmelfahrtstage die Kirche, wo ſie aber, ganz er¬
fuͤllt vom maͤchtigen Gefuͤhlsdrange, kaum auf die Predigt hoͤrte.
Ihr vorherrſchender Gedanke muß die Nothwendigkeit einer Gna¬
denwirkung Gottes durch die Sacramente und ihre hohe Be¬
duͤrftigkeit derſelben geweſen ſein, denn ploͤtzlich vernahm ſie
in ihrem Herzen einen maͤchtigen Ruf: „du biſt ein Jude,
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/67>, abgerufen am 26.07.2024.
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