König ihm bekannt wurde, weil seine streng religiöse Denk¬ weise die Größe des Frevels hinreichend begriff. Er machte seinem Gefühle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechsel Ge¬ dichte verfertigte, denen meistens schon aller innere Gedanken¬ zusammenhang fehlte. Wer wollte die Gesinnung des W. nicht loben, welcher nach deutlichen Vorstellungen rang, nachdem er im unseeligen Zwiespalt seines religiösen Gefühls die Klarheit und Ordnung seiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht aufrichtig beklagen, daß er darüber seinen nächsten Beruf gänzlich vergaß, für die Wohlfahrt seiner Familie zu sorgen? Denn schon war es dahin gekommen, daß er seinen Erwerb vernachlässigte, um die meiste Zeit dem Abfassen von Aufsätzen zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte, viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuschrei¬ ben. Er lebte in der Täuschung, welche so oft der unklaren, aber leidenschaftlich aufgeregten Köpfe sich bemächtigt, daß das Ungewohnte lebhafte Aufsprudeln selbst der verworrensten Vor¬ stellungen schon die Befähigung anzeige, über die großen und allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte er seine Aufsätze, welche er größtentheils von einem ihm ver¬ schuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken lassen. Vergebens stellte ihm seine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬ nisse eines Schriftstellers abgingen, und daß er für die Sei¬ nigen, namentlich für den bald fälligen Miethzins sorgen solle. Anstatt ihn zur Besinnung zu bringen, flößte sie ihm einen heftigen Haß gegen sich ein, so daß er oft es aussprach, er Wolle sie verstoßen, ungeachtet sie ihn kümmerlich mit Hand¬ arbeiten ernähren mußte.
In die heftigste Aufregung wurde aber W. versetzt, als etwa 6 Wochen vor seiner Aufnahme in die Charite ein Wie¬ dertäufer nochmals den Versuch machte, ihn zur Rückkehr zu der verlassenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgesprochen haben soll, daß die Vorsteher jener Secte die Schlüssel zum Himmelreich führen, worauf W. mit der größten Entrüstung erwiederte, daß Christus allein diese Schlüssel habe. Dieser Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorstand
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Koͤnig ihm bekannt wurde, weil ſeine ſtreng religioͤſe Denk¬ weiſe die Groͤße des Frevels hinreichend begriff. Er machte ſeinem Gefuͤhle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechſel Ge¬ dichte verfertigte, denen meiſtens ſchon aller innere Gedanken¬ zuſammenhang fehlte. Wer wollte die Geſinnung des W. nicht loben, welcher nach deutlichen Vorſtellungen rang, nachdem er im unſeeligen Zwieſpalt ſeines religioͤſen Gefuͤhls die Klarheit und Ordnung ſeiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht aufrichtig beklagen, daß er daruͤber ſeinen naͤchſten Beruf gaͤnzlich vergaß, fuͤr die Wohlfahrt ſeiner Familie zu ſorgen? Denn ſchon war es dahin gekommen, daß er ſeinen Erwerb vernachlaͤſſigte, um die meiſte Zeit dem Abfaſſen von Aufſaͤtzen zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte, viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuſchrei¬ ben. Er lebte in der Taͤuſchung, welche ſo oft der unklaren, aber leidenſchaftlich aufgeregten Koͤpfe ſich bemaͤchtigt, daß das Ungewohnte lebhafte Aufſprudeln ſelbſt der verworrenſten Vor¬ ſtellungen ſchon die Befaͤhigung anzeige, uͤber die großen und allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte er ſeine Aufſaͤtze, welche er groͤßtentheils von einem ihm ver¬ ſchuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken laſſen. Vergebens ſtellte ihm ſeine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬ niſſe eines Schriftſtellers abgingen, und daß er fuͤr die Sei¬ nigen, namentlich fuͤr den bald faͤlligen Miethzins ſorgen ſolle. Anſtatt ihn zur Beſinnung zu bringen, floͤßte ſie ihm einen heftigen Haß gegen ſich ein, ſo daß er oft es ausſprach, er Wolle ſie verſtoßen, ungeachtet ſie ihn kuͤmmerlich mit Hand¬ arbeiten ernaͤhren mußte.
In die heftigſte Aufregung wurde aber W. verſetzt, als etwa 6 Wochen vor ſeiner Aufnahme in die Charité ein Wie¬ dertaͤufer nochmals den Verſuch machte, ihn zur Ruͤckkehr zu der verlaſſenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgeſprochen haben ſoll, daß die Vorſteher jener Secte die Schluͤſſel zum Himmelreich fuͤhren, worauf W. mit der groͤßten Entruͤſtung erwiederte, daß Chriſtus allein dieſe Schluͤſſel habe. Dieſer Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorſtand
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Koͤnig ihm bekannt wurde, weil ſeine ſtreng religioͤſe Denk¬
weiſe die Groͤße des Frevels hinreichend begriff. Er machte
ſeinem Gefuͤhle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn
auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechſel Ge¬
dichte verfertigte, denen meiſtens ſchon aller innere Gedanken¬
zuſammenhang fehlte. Wer wollte die Geſinnung des W. nicht
loben, welcher nach deutlichen Vorſtellungen rang, nachdem
er im unſeeligen Zwieſpalt ſeines religioͤſen Gefuͤhls die Klarheit
und Ordnung ſeiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht
aufrichtig beklagen, daß er daruͤber ſeinen naͤchſten Beruf
gaͤnzlich vergaß, fuͤr die Wohlfahrt ſeiner Familie zu ſorgen?
Denn ſchon war es dahin gekommen, daß er ſeinen Erwerb
vernachlaͤſſigte, um die meiſte Zeit dem Abfaſſen von Aufſaͤtzen
zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte,
viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuſchrei¬
ben. Er lebte in der Taͤuſchung, welche ſo oft der unklaren,
aber leidenſchaftlich aufgeregten Koͤpfe ſich bemaͤchtigt, daß das
Ungewohnte lebhafte Aufſprudeln ſelbſt der verworrenſten Vor¬
ſtellungen ſchon die Befaͤhigung anzeige, uͤber die großen und
allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte
er ſeine Aufſaͤtze, welche er groͤßtentheils von einem ihm ver¬
ſchuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken laſſen.
Vergebens ſtellte ihm ſeine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬
niſſe eines Schriftſtellers abgingen, und daß er fuͤr die Sei¬
nigen, namentlich fuͤr den bald faͤlligen Miethzins ſorgen ſolle.
Anſtatt ihn zur Beſinnung zu bringen, floͤßte ſie ihm einen
heftigen Haß gegen ſich ein, ſo daß er oft es ausſprach, er
Wolle ſie verſtoßen, ungeachtet ſie ihn kuͤmmerlich mit Hand¬
arbeiten ernaͤhren mußte.
In die heftigſte Aufregung wurde aber W. verſetzt, als
etwa 6 Wochen vor ſeiner Aufnahme in die Charité ein Wie¬
dertaͤufer nochmals den Verſuch machte, ihn zur Ruͤckkehr zu
der verlaſſenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem
erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgeſprochen
haben ſoll, daß die Vorſteher jener Secte die Schluͤſſel zum
Himmelreich fuͤhren, worauf W. mit der groͤßten Entruͤſtung
erwiederte, daß Chriſtus allein dieſe Schluͤſſel habe. Dieſer
Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorſtand
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/59>, abgerufen am 05.07.2024.
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