Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Mehr als alles Uebrige erregte es aber sein Befremden,
daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und
Episteln, sondern fast nur aus dem alten Testamente und der
Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch
die mosaische Lehre von dem starken und eifrigen Gotte, wel¬
cher die Juden für ihren Götzendienst züchtigte, und durch die
Vergleichung des siebenköpfigen Thiers in der Apokalypse mit
dem auf 7 Hügeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotischen
Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬
lein) seligmachenden Glauben der Wiedertäufer abwichen. Es
fehlte nicht an wiederholten Anspielungen, daß der Besuch an¬
derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher
dringend gewarnt wurde. Dadurch bestärkte W. sich immer
mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertäufer
völlig vom Christenthume abgewichen, und zum jüdischen Glau¬
ben übergetreten sei, und er nahm davon Veranlassung, an
den Vorstand der Gemeinde einen Brief voll der heftigsten Vor¬
würfe zu richten, und in ihm eine offene Erklärung des Glau¬
bensbekenntnisses zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, so
griff er, auf Aussprüche der Bibel gestützt, seine neuen Gegner
mit einer solchen Erbitterung an, daß sie ihm wiederholt zu¬
riefen: "Du hast den Teufel!" Es liegt im Wesen des Arg¬
wohns, gehässigen Voraussetzungen eine möglichst große Aus¬
dehnung zu geben, und so kam W. bald dahin, die Stiftung
der neuen Secte aus den niedrigsten Motiven des Eigennutzes
abzuleiten, und das Erheben einer wöchentlichen Abgabe von
durchschnittlich 5 Silbergroschen, welche jedes Mitglied zur Be¬
streitung der Kosten des Gottesdienstes entrichten mußte, für
eine habsüchtige Besteuerung im Namen der Religion zu
halten.

Kein Wunder daher, daß er sich allmählig immer mehr
den Wiedertäufern entfremdete, und in die evangelische Kirche
zurückkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten
ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬
täufern gehaltenen Vorträge auch in seinem Urtheile nicht den
entferntesten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Besin¬
nung brachten. Als es so weit mit ihm gekommen war, em¬
pfand er bittere Reue über seinen Uebertritt zu ihnen, welcher

Ideler über d. rel. Wahnsinn. 4

Mehr als alles Uebrige erregte es aber ſein Befremden,
daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und
Epiſteln, ſondern faſt nur aus dem alten Teſtamente und der
Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch
die moſaiſche Lehre von dem ſtarken und eifrigen Gotte, wel¬
cher die Juden fuͤr ihren Goͤtzendienſt zuͤchtigte, und durch die
Vergleichung des ſiebenkoͤpfigen Thiers in der Apokalypſe mit
dem auf 7 Huͤgeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotiſchen
Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬
lein) ſeligmachenden Glauben der Wiedertaͤufer abwichen. Es
fehlte nicht an wiederholten Anſpielungen, daß der Beſuch an¬
derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher
dringend gewarnt wurde. Dadurch beſtaͤrkte W. ſich immer
mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertaͤufer
voͤllig vom Chriſtenthume abgewichen, und zum juͤdiſchen Glau¬
ben uͤbergetreten ſei, und er nahm davon Veranlaſſung, an
den Vorſtand der Gemeinde einen Brief voll der heftigſten Vor¬
wuͤrfe zu richten, und in ihm eine offene Erklaͤrung des Glau¬
bensbekenntniſſes zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, ſo
griff er, auf Ausſpruͤche der Bibel geſtuͤtzt, ſeine neuen Gegner
mit einer ſolchen Erbitterung an, daß ſie ihm wiederholt zu¬
riefen: „Du haſt den Teufel!” Es liegt im Weſen des Arg¬
wohns, gehaͤſſigen Vorausſetzungen eine moͤglichſt große Aus¬
dehnung zu geben, und ſo kam W. bald dahin, die Stiftung
der neuen Secte aus den niedrigſten Motiven des Eigennutzes
abzuleiten, und das Erheben einer woͤchentlichen Abgabe von
durchſchnittlich 5 Silbergroſchen, welche jedes Mitglied zur Be¬
ſtreitung der Koſten des Gottesdienſtes entrichten mußte, fuͤr
eine habſuͤchtige Beſteuerung im Namen der Religion zu
halten.

Kein Wunder daher, daß er ſich allmaͤhlig immer mehr
den Wiedertaͤufern entfremdete, und in die evangeliſche Kirche
zuruͤckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten
ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬
taͤufern gehaltenen Vortraͤge auch in ſeinem Urtheile nicht den
entfernteſten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Beſin¬
nung brachten. Als es ſo weit mit ihm gekommen war, em¬
pfand er bittere Reue uͤber ſeinen Uebertritt zu ihnen, welcher

Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0057" n="49"/>
        <p>Mehr als alles Uebrige erregte es aber &#x017F;ein Befremden,<lb/>
daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und<lb/>
Epi&#x017F;teln, &#x017F;ondern fa&#x017F;t nur aus dem alten Te&#x017F;tamente und der<lb/>
Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch<lb/>
die mo&#x017F;ai&#x017F;che Lehre von dem &#x017F;tarken und eifrigen Gotte, wel¬<lb/>
cher die Juden fu&#x0364;r ihren Go&#x0364;tzendien&#x017F;t zu&#x0364;chtigte, und durch die<lb/>
Vergleichung des &#x017F;iebenko&#x0364;pfigen Thiers in der Apokalyp&#x017F;e mit<lb/>
dem auf 7 Hu&#x0364;geln erbauten Rom Gelegenheit zum zeloti&#x017F;chen<lb/>
Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬<lb/>
lein) &#x017F;eligmachenden Glauben der Wiederta&#x0364;ufer abwichen. Es<lb/>
fehlte nicht an wiederholten An&#x017F;pielungen, daß der Be&#x017F;uch an¬<lb/>
derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher<lb/>
dringend gewarnt wurde. Dadurch be&#x017F;ta&#x0364;rkte W. &#x017F;ich immer<lb/>
mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiederta&#x0364;ufer<lb/>
vo&#x0364;llig vom Chri&#x017F;tenthume abgewichen, und zum ju&#x0364;di&#x017F;chen Glau¬<lb/>
ben u&#x0364;bergetreten &#x017F;ei, und er nahm davon Veranla&#x017F;&#x017F;ung, an<lb/>
den Vor&#x017F;tand der Gemeinde einen Brief voll der heftig&#x017F;ten Vor¬<lb/>
wu&#x0364;rfe zu richten, und in ihm eine offene Erkla&#x0364;rung des Glau¬<lb/>
bensbekenntni&#x017F;&#x017F;es zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, &#x017F;o<lb/>
griff er, auf Aus&#x017F;pru&#x0364;che der Bibel ge&#x017F;tu&#x0364;tzt, &#x017F;eine neuen Gegner<lb/>
mit einer &#x017F;olchen Erbitterung an, daß &#x017F;ie ihm wiederholt zu¬<lb/>
riefen: &#x201E;Du ha&#x017F;t den Teufel!&#x201D; Es liegt im We&#x017F;en des Arg¬<lb/>
wohns, geha&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen Voraus&#x017F;etzungen eine mo&#x0364;glich&#x017F;t große Aus¬<lb/>
dehnung zu geben, und &#x017F;o kam W. bald dahin, die Stiftung<lb/>
der neuen Secte aus den niedrig&#x017F;ten Motiven des Eigennutzes<lb/>
abzuleiten, und das Erheben einer wo&#x0364;chentlichen Abgabe von<lb/>
durch&#x017F;chnittlich 5 Silbergro&#x017F;chen, welche jedes Mitglied zur Be¬<lb/>
&#x017F;treitung der Ko&#x017F;ten des Gottesdien&#x017F;tes entrichten mußte, fu&#x0364;r<lb/>
eine hab&#x017F;u&#x0364;chtige Be&#x017F;teuerung im Namen der Religion zu<lb/>
halten.</p><lb/>
        <p>Kein Wunder daher, daß er &#x017F;ich allma&#x0364;hlig immer mehr<lb/>
den Wiederta&#x0364;ufern entfremdete, und in die evangeli&#x017F;che Kirche<lb/>
zuru&#x0364;ckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten<lb/>
ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬<lb/>
ta&#x0364;ufern gehaltenen Vortra&#x0364;ge auch in &#x017F;einem Urtheile nicht den<lb/>
entfernte&#x017F;ten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Be&#x017F;in¬<lb/>
nung brachten. Als es &#x017F;o weit mit ihm gekommen war, em¬<lb/>
pfand er bittere Reue u&#x0364;ber &#x017F;einen Uebertritt zu ihnen, welcher<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Ideler</hi> u&#x0364;ber d. rel. Wahn&#x017F;inn. 4<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0057] Mehr als alles Uebrige erregte es aber ſein Befremden, daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und Epiſteln, ſondern faſt nur aus dem alten Teſtamente und der Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch die moſaiſche Lehre von dem ſtarken und eifrigen Gotte, wel¬ cher die Juden fuͤr ihren Goͤtzendienſt zuͤchtigte, und durch die Vergleichung des ſiebenkoͤpfigen Thiers in der Apokalypſe mit dem auf 7 Huͤgeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotiſchen Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬ lein) ſeligmachenden Glauben der Wiedertaͤufer abwichen. Es fehlte nicht an wiederholten Anſpielungen, daß der Beſuch an¬ derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher dringend gewarnt wurde. Dadurch beſtaͤrkte W. ſich immer mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertaͤufer voͤllig vom Chriſtenthume abgewichen, und zum juͤdiſchen Glau¬ ben uͤbergetreten ſei, und er nahm davon Veranlaſſung, an den Vorſtand der Gemeinde einen Brief voll der heftigſten Vor¬ wuͤrfe zu richten, und in ihm eine offene Erklaͤrung des Glau¬ bensbekenntniſſes zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, ſo griff er, auf Ausſpruͤche der Bibel geſtuͤtzt, ſeine neuen Gegner mit einer ſolchen Erbitterung an, daß ſie ihm wiederholt zu¬ riefen: „Du haſt den Teufel!” Es liegt im Weſen des Arg¬ wohns, gehaͤſſigen Vorausſetzungen eine moͤglichſt große Aus¬ dehnung zu geben, und ſo kam W. bald dahin, die Stiftung der neuen Secte aus den niedrigſten Motiven des Eigennutzes abzuleiten, und das Erheben einer woͤchentlichen Abgabe von durchſchnittlich 5 Silbergroſchen, welche jedes Mitglied zur Be¬ ſtreitung der Koſten des Gottesdienſtes entrichten mußte, fuͤr eine habſuͤchtige Beſteuerung im Namen der Religion zu halten. Kein Wunder daher, daß er ſich allmaͤhlig immer mehr den Wiedertaͤufern entfremdete, und in die evangeliſche Kirche zuruͤckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬ taͤufern gehaltenen Vortraͤge auch in ſeinem Urtheile nicht den entfernteſten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Beſin¬ nung brachten. Als es ſo weit mit ihm gekommen war, em¬ pfand er bittere Reue uͤber ſeinen Uebertritt zu ihnen, welcher Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/57
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/57>, abgerufen am 06.05.2024.