es giebt keinen verderblicheren Widerspruch in der innersten Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen übri¬ gen Angelegenheiten eine größere Ausbildung gewonnen hat, aber mit seinen Glaubensformen auf der Stufe früherer Jahrhun¬ derte stehen geblieben ist, zu deren Zeit dieselben im völlig¬ sten Einklange mit einer auf die rohen Anfänge beschränkten Cultur standen, deren geringe Bedürfnisse in schlichteren socia¬ len Verhältnissen auch in einem wenig entwickelten religiösen Bewußtsein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬ ligion zur Wahrheit werden, so setzt dies nothwendig voraus, daß sie als höchstes Lebensprincip alle menschlichen Angelegen¬ heiten innig durchdringe, daß sie in der Wissenschaft, der Kunst und den praktischen Verhältnissen, als den nothwendigen Ele¬ menten menschlichen Strebens und Wirkens die Widersprüche mit dem göttlichen Gesetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt überwinde. Eine Religion, welche in beharrlich festgehaltenen Formeln abgeschlossen, nicht in sich mehr jenes schöpferische Vermögen findet, mit welchem sie sich, unbeschadet ihrer gött¬ lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen gestalten, und in ungehinderter Entwickelung derselben das rastlose Fortschreiten aller menschlichen Bestrebungen einholen, ja überflügeln kann, eine solche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen Welt stiften, und ihren mächtigen Einfluß auf die höchste Ver¬ edlung des Lebens um so gewisser einbüßen, je mehr letzteres durch den riesenhaften Wetteifer zahlloser Interessen ein Kampf¬ platz titanischer Kräfte geworden ist.
Wenn nun ein Volk darüber zur Erkenntniß gelangt ist, daß es die versäumte Entwickelung seines religiösen Bewußt¬ seins nachholen müsse, um dasselbe in wahrhafte Uebereinstim¬ mung mit seinen mächtigen Fortschritten in allen übrigen Cul¬ turzweigen zu bringen; so beurkundet es dadurch eben so ge¬ wiß seine völlige Reife für eine veredelte und vervollkommnete Freiheit seines Gesammtlebens, seine Erhebung zu einer hö¬ heren Stufe der welthistorischen Bedeutung, als es durch das Gegentheil unfehlbar in die geistlose Rohheit grob materieller Interessen versinkt; und unter ihrer despotischen Alleinherrschaft immer größeren Abbruch an seinen geistig sittlichen Gütern er¬ leidet, bis es des wahren Lebensprincips völlig beraubt, in
es giebt keinen verderblicheren Widerſpruch in der innerſten Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen uͤbri¬ gen Angelegenheiten eine groͤßere Ausbildung gewonnen hat, aber mit ſeinen Glaubensformen auf der Stufe fruͤherer Jahrhun¬ derte ſtehen geblieben iſt, zu deren Zeit dieſelben im voͤllig¬ ſten Einklange mit einer auf die rohen Anfaͤnge beſchraͤnkten Cultur ſtanden, deren geringe Beduͤrfniſſe in ſchlichteren ſocia¬ len Verhaͤltniſſen auch in einem wenig entwickelten religioͤſen Bewußtſein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬ ligion zur Wahrheit werden, ſo ſetzt dies nothwendig voraus, daß ſie als hoͤchſtes Lebensprincip alle menſchlichen Angelegen¬ heiten innig durchdringe, daß ſie in der Wiſſenſchaft, der Kunſt und den praktiſchen Verhaͤltniſſen, als den nothwendigen Ele¬ menten menſchlichen Strebens und Wirkens die Widerſpruͤche mit dem goͤttlichen Geſetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt uͤberwinde. Eine Religion, welche in beharrlich feſtgehaltenen Formeln abgeſchloſſen, nicht in ſich mehr jenes ſchoͤpferiſche Vermoͤgen findet, mit welchem ſie ſich, unbeſchadet ihrer goͤtt¬ lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen geſtalten, und in ungehinderter Entwickelung derſelben das raſtloſe Fortſchreiten aller menſchlichen Beſtrebungen einholen, ja uͤberfluͤgeln kann, eine ſolche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen Welt ſtiften, und ihren maͤchtigen Einfluß auf die hoͤchſte Ver¬ edlung des Lebens um ſo gewiſſer einbuͤßen, je mehr letzteres durch den rieſenhaften Wetteifer zahlloſer Intereſſen ein Kampf¬ platz titaniſcher Kraͤfte geworden iſt.
Wenn nun ein Volk daruͤber zur Erkenntniß gelangt iſt, daß es die verſaͤumte Entwickelung ſeines religioͤſen Bewußt¬ ſeins nachholen muͤſſe, um daſſelbe in wahrhafte Uebereinſtim¬ mung mit ſeinen maͤchtigen Fortſchritten in allen uͤbrigen Cul¬ turzweigen zu bringen; ſo beurkundet es dadurch eben ſo ge¬ wiß ſeine voͤllige Reife fuͤr eine veredelte und vervollkommnete Freiheit ſeines Geſammtlebens, ſeine Erhebung zu einer hoͤ¬ heren Stufe der welthiſtoriſchen Bedeutung, als es durch das Gegentheil unfehlbar in die geiſtloſe Rohheit grob materieller Intereſſen verſinkt; und unter ihrer despotiſchen Alleinherrſchaft immer groͤßeren Abbruch an ſeinen geiſtig ſittlichen Guͤtern er¬ leidet, bis es des wahren Lebensprincips voͤllig beraubt, in
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[15/0023]
es giebt keinen verderblicheren Widerſpruch in der innerſten
Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen uͤbri¬
gen Angelegenheiten eine groͤßere Ausbildung gewonnen hat, aber
mit ſeinen Glaubensformen auf der Stufe fruͤherer Jahrhun¬
derte ſtehen geblieben iſt, zu deren Zeit dieſelben im voͤllig¬
ſten Einklange mit einer auf die rohen Anfaͤnge beſchraͤnkten
Cultur ſtanden, deren geringe Beduͤrfniſſe in ſchlichteren ſocia¬
len Verhaͤltniſſen auch in einem wenig entwickelten religioͤſen
Bewußtſein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬
ligion zur Wahrheit werden, ſo ſetzt dies nothwendig voraus,
daß ſie als hoͤchſtes Lebensprincip alle menſchlichen Angelegen¬
heiten innig durchdringe, daß ſie in der Wiſſenſchaft, der Kunſt
und den praktiſchen Verhaͤltniſſen, als den nothwendigen Ele¬
menten menſchlichen Strebens und Wirkens die Widerſpruͤche
mit dem goͤttlichen Geſetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt
uͤberwinde. Eine Religion, welche in beharrlich feſtgehaltenen
Formeln abgeſchloſſen, nicht in ſich mehr jenes ſchoͤpferiſche
Vermoͤgen findet, mit welchem ſie ſich, unbeſchadet ihrer goͤtt¬
lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen geſtalten, und in
ungehinderter Entwickelung derſelben das raſtloſe Fortſchreiten
aller menſchlichen Beſtrebungen einholen, ja uͤberfluͤgeln kann,
eine ſolche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen
Welt ſtiften, und ihren maͤchtigen Einfluß auf die hoͤchſte Ver¬
edlung des Lebens um ſo gewiſſer einbuͤßen, je mehr letzteres
durch den rieſenhaften Wetteifer zahlloſer Intereſſen ein Kampf¬
platz titaniſcher Kraͤfte geworden iſt.
Wenn nun ein Volk daruͤber zur Erkenntniß gelangt iſt,
daß es die verſaͤumte Entwickelung ſeines religioͤſen Bewußt¬
ſeins nachholen muͤſſe, um daſſelbe in wahrhafte Uebereinſtim¬
mung mit ſeinen maͤchtigen Fortſchritten in allen uͤbrigen Cul¬
turzweigen zu bringen; ſo beurkundet es dadurch eben ſo ge¬
wiß ſeine voͤllige Reife fuͤr eine veredelte und vervollkommnete
Freiheit ſeines Geſammtlebens, ſeine Erhebung zu einer hoͤ¬
heren Stufe der welthiſtoriſchen Bedeutung, als es durch das
Gegentheil unfehlbar in die geiſtloſe Rohheit grob materieller
Intereſſen verſinkt; und unter ihrer despotiſchen Alleinherrſchaft
immer groͤßeren Abbruch an ſeinen geiſtig ſittlichen Guͤtern er¬
leidet, bis es des wahren Lebensprincips voͤllig beraubt, in
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/23>, abgerufen am 16.02.2025.
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