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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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sich zu Grunde gehen muß. Aber das historische Recht, kraft
dessen die ausgelebten Glaubensformeln sich behaupten, setzt
der freien Entwickelung des religiösen Bewußtseins ein schwer
zu überwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf
entbrennt zwischen den Partheien des Stabilismus und des
Fortschritts, deren jede ihr heiligstes Interesse durch die Geg¬
ner mit Vernichtung bedroht sieht. Daß in diesem Kampfe
um die höchsten und theuersten Güter die Leidenschaften den
äußersten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den
zerstörendsten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geschichte
aller Zeiten und Völker, sondern liegt auch in der Natur der
Sache, da es sich hierbei um nichts Geringeres handelt, als
um das Geltendmachen der ursprünglichen Grundsätze, in wel¬
chen das Leben nach allen seinen Beziehungen gedacht und ge¬
staltet werden soll. In diesem Sinne erlangen daher auch
die religiösen Leidenschaften eine edlere Bedeutung, da nur in
dem Zusammenstoß der schroffsten Gegensätze die Gemüthskräfte
zu ihrer höchsten Energie sich steigern, und somit ein wirklich
schöpferisches Vermögen gewinnen können, um eine neue Ord¬
nung der Dinge hervorzurufen und zu begründen, während die
laue, ja indifferente Gesinnung, welche nur mit den Gegen¬
sätzen ein loses Spiel treibt, desselben bald überdrüssig wird,
da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr
also die Geister auf einander platzen, je heißer der Kampf
zwischen den Partheien entbrennt, um so mehr legen sie das
Zeugniß ihres heiligen Ernstes ab, und wenn es ihnen auch
nicht immer beschieden ist, die Früchte davon zu ernten, so
hatten sie doch wenigstens auf dem nothwendigen Entwicke¬
lungsgange der Menschheit eine höhere Stufe erreicht, welche den
Weg zu weiteren Fortschritten bezeichnet.

Indeß wenn auch diese welthistorische Bedeutung der
Glaubensstreitigkeiten Trost gewähren kann für die durch re¬
ligiöse Leidenschaften angerichteten Verwüstungen menschlicher
Wohlfahrt, so müssen doch letztere den entsetzlichsten Schicksa¬
len beigemessen werden, von denen unser Erdenloos betroffen
werden kann. Nur die Ueberzeugung, daß die edelsten Ideen
zuletzt immer siegreich aus allen Verheerungen des Fanatismus
hervorgehen, und daß letzterer ein nothwendiges Element im

ſich zu Grunde gehen muß. Aber das hiſtoriſche Recht, kraft
deſſen die ausgelebten Glaubensformeln ſich behaupten, ſetzt
der freien Entwickelung des religioͤſen Bewußtſeins ein ſchwer
zu uͤberwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf
entbrennt zwiſchen den Partheien des Stabilismus und des
Fortſchritts, deren jede ihr heiligſtes Intereſſe durch die Geg¬
ner mit Vernichtung bedroht ſieht. Daß in dieſem Kampfe
um die hoͤchſten und theuerſten Guͤter die Leidenſchaften den
aͤußerſten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den
zerſtoͤrendſten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geſchichte
aller Zeiten und Voͤlker, ſondern liegt auch in der Natur der
Sache, da es ſich hierbei um nichts Geringeres handelt, als
um das Geltendmachen der urſpruͤnglichen Grundſaͤtze, in wel¬
chen das Leben nach allen ſeinen Beziehungen gedacht und ge¬
ſtaltet werden ſoll. In dieſem Sinne erlangen daher auch
die religioͤſen Leidenſchaften eine edlere Bedeutung, da nur in
dem Zuſammenſtoß der ſchroffſten Gegenſaͤtze die Gemuͤthskraͤfte
zu ihrer hoͤchſten Energie ſich ſteigern, und ſomit ein wirklich
ſchoͤpferiſches Vermoͤgen gewinnen koͤnnen, um eine neue Ord¬
nung der Dinge hervorzurufen und zu begruͤnden, waͤhrend die
laue, ja indifferente Geſinnung, welche nur mit den Gegen¬
ſaͤtzen ein loſes Spiel treibt, deſſelben bald uͤberdruͤſſig wird,
da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr
alſo die Geiſter auf einander platzen, je heißer der Kampf
zwiſchen den Partheien entbrennt, um ſo mehr legen ſie das
Zeugniß ihres heiligen Ernſtes ab, und wenn es ihnen auch
nicht immer beſchieden iſt, die Fruͤchte davon zu ernten, ſo
hatten ſie doch wenigſtens auf dem nothwendigen Entwicke¬
lungsgange der Menſchheit eine hoͤhere Stufe erreicht, welche den
Weg zu weiteren Fortſchritten bezeichnet.

Indeß wenn auch dieſe welthiſtoriſche Bedeutung der
Glaubensſtreitigkeiten Troſt gewaͤhren kann fuͤr die durch re¬
ligioͤſe Leidenſchaften angerichteten Verwuͤſtungen menſchlicher
Wohlfahrt, ſo muͤſſen doch letztere den entſetzlichſten Schickſa¬
len beigemeſſen werden, von denen unſer Erdenloos betroffen
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[16/0024] ſich zu Grunde gehen muß. Aber das hiſtoriſche Recht, kraft deſſen die ausgelebten Glaubensformeln ſich behaupten, ſetzt der freien Entwickelung des religioͤſen Bewußtſeins ein ſchwer zu uͤberwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf entbrennt zwiſchen den Partheien des Stabilismus und des Fortſchritts, deren jede ihr heiligſtes Intereſſe durch die Geg¬ ner mit Vernichtung bedroht ſieht. Daß in dieſem Kampfe um die hoͤchſten und theuerſten Guͤter die Leidenſchaften den aͤußerſten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den zerſtoͤrendſten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geſchichte aller Zeiten und Voͤlker, ſondern liegt auch in der Natur der Sache, da es ſich hierbei um nichts Geringeres handelt, als um das Geltendmachen der urſpruͤnglichen Grundſaͤtze, in wel¬ chen das Leben nach allen ſeinen Beziehungen gedacht und ge¬ ſtaltet werden ſoll. In dieſem Sinne erlangen daher auch die religioͤſen Leidenſchaften eine edlere Bedeutung, da nur in dem Zuſammenſtoß der ſchroffſten Gegenſaͤtze die Gemuͤthskraͤfte zu ihrer hoͤchſten Energie ſich ſteigern, und ſomit ein wirklich ſchoͤpferiſches Vermoͤgen gewinnen koͤnnen, um eine neue Ord¬ nung der Dinge hervorzurufen und zu begruͤnden, waͤhrend die laue, ja indifferente Geſinnung, welche nur mit den Gegen¬ ſaͤtzen ein loſes Spiel treibt, deſſelben bald uͤberdruͤſſig wird, da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr alſo die Geiſter auf einander platzen, je heißer der Kampf zwiſchen den Partheien entbrennt, um ſo mehr legen ſie das Zeugniß ihres heiligen Ernſtes ab, und wenn es ihnen auch nicht immer beſchieden iſt, die Fruͤchte davon zu ernten, ſo hatten ſie doch wenigſtens auf dem nothwendigen Entwicke¬ lungsgange der Menſchheit eine hoͤhere Stufe erreicht, welche den Weg zu weiteren Fortſchritten bezeichnet. Indeß wenn auch dieſe welthiſtoriſche Bedeutung der Glaubensſtreitigkeiten Troſt gewaͤhren kann fuͤr die durch re¬ ligioͤſe Leidenſchaften angerichteten Verwuͤſtungen menſchlicher Wohlfahrt, ſo muͤſſen doch letztere den entſetzlichſten Schickſa¬ len beigemeſſen werden, von denen unſer Erdenloos betroffen werden kann. Nur die Ueberzeugung, daß die edelſten Ideen zuletzt immer ſiegreich aus allen Verheerungen des Fanatismus hervorgehen, und daß letzterer ein nothwendiges Element im

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/24>, abgerufen am 26.04.2024.