Menschenbrust zu werfen, und die wahre Bedeutung der in ihnen waltenden Vorgänge zu erkennen. Eine solche Gelegen¬ heit bietet uns der Wahnsinn dar, welcher den Schleier der wahren Gesinnung lüftend, sie noch dazu in so starken Zü¬ gen hervortreten läßt, daß ihr wesentlicher Charakter nicht län¬ ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geisteskranke, wel¬ cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬ tive der in ihr herrschenden Verstellung vergessen hat, und sich in eine Traumwelt versetzt, wo kein äußerer Zwang seinem mächtigen Gefühlsdrange angethan wird, giebt daher denselben auch in den unzweideutigsten Aeußerungen durch Wort, That und Betragen vollständig kund; er spricht Alles aus, was in ihm vorgeht, sein Hoffen und Fürchten, sein Lieben und Has¬ sen, sein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬ samen Beobachtung bedarf, um den Schlüssel zu allen Er¬ scheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn häufig ge¬ nug Beweggründe zur Verstellung, wohin namentlich seine Versetzung in eine Irrenanstalt zu rechnen ist, über deren Zweck, in sofern er dadurch zu einer Sinnesänderung bewogen wer¬ den soll, er meistentheils bald genug hinreichend ins Klare kommt, um den ihn beherrschenden Wahn möglichst zu ver¬ hehlen, und eine scheinbare Besonnenheit zu affectiren, mit welcher er das Recht der Entlassung aus der Heilanstalt gel¬ tend zu machen sucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den Eigenthümlichkeiten der Geisteskrankheiten durch längere auf¬ merksame Beobachtung sich vertraut gemacht hat, durchschaut diese Verstellung gewöhnlich bald, und weiß den Wahnsinni¬ gen zu bestimmen, seine eigentliche Denkweise hervortreten zu lassen.
Die Anwendung dieser Bemerkungen auf den frommen Wahn läßt uns die hohe Wichtigkeit seines Studiums für die richtige Beurtheilung unsrer heiligsten Angelegenheiten deutlich erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religiöser Aufre¬ gung muß als eine höhere Entwickelungsstufe des Volksthums angesehen werden, welches in seiner durch fortschreitende Civi¬ lisation erweiterten Lebensanschauung zu dem Bewußtsein der Nothwendigkeit ihrer tieferen Begründung durch eine geläuterte und veredelte religiöse Denkweise zu gelangen strebt. Denn
Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬ heit bietet uns der Wahnſinn dar, welcher den Schleier der wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬ gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬ ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬ cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬ tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬ ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬ ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬ ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬ nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck, in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬ den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬ hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬ tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬ merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬ gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten zu laſſen.
Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬ gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬ liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn
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Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in
ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬
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wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬
gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬
ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬
cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬
tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich
in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem
maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben
auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That
und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in
ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬
ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬
ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬
ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬
nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine
Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck,
in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬
den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare
kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬
hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit
welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬
tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den
Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬
merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut
dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬
gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten
zu laſſen.
Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen
Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die
richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich
erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬
gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums
angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬
liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der
Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte
und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/22>, abgerufen am 05.07.2024.
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