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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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ihn hinreichend befähigten. Nach einer 7monatlichen Behand¬
lung war er geistig und körperlich so vollständig wiedergenesen
daß seine Entlassung ohne Bedenken erfolgen konnte.

19.

S., 40 Jahre alt, erhielt von seinen im Mittelstande
lebenden Aeltern eine angemessene Erziehung, und besuchte ein
hiesiges Gymnasium, welches er indeß vor dem Eintritt in die
oberen Klassen verließ, um sich dem kaufmännischen Gewerbe
zu widmen. Schon in seiner frühen Jugend zeigte er einen,
nicht durch kränkliche Reizbarkeit der Nerven bedingten Hang
zur Schwärmerei und zum grüblerischen Nachsinnen in man¬
chen auffallenden Erscheinungen; so überreichte er z. B. einem
Lehrer einen Aufsatz, welcher allerlei Gedanken über Schul¬
reformen enthielt, und überhaupt wurde bei ihm der kindliche
Frohsinn vermißt, an dessen Stelle ein geheimnißvolles Insich¬
gekehrtsein trat. Diese naturwidrige Richtung seines Geistes
verirrte sich sogar zu phantastischen Sinnestäuschungen, wie er
sich |denn unter anderem einbildete, einmal von einem Geiste
eine Treppe hinuntergetragen worden zu sein. Wenn er sich
auch seinem Berufe, in welchem er ein nicht geringes Talent
bewiesen haben soll, mit Neigung und Eifer ergab; so blieb
doch sein erwähnter Hang vorherrschend, und veranlaßte ihn,
in den Mußestunden philosophische, politische und religiöse
Schriften zu lesen, welche, anstatt ihn in ächter Geistescultur
zu fördern, seinen Kopf mit einer Menge von unverdauten
Begriffen erfüllten, durch sie sein Urtheil irre leiteten, und
ihn außer Stand setzten, über seine wahre Bestimmung zum
deutlichen Bewußtsein zu kommen. In einer solchen Gedan¬
kenverwirrung giebt sich der Verstand leicht den Chimären einer
erhitzten Einbildungskraft gefangen, und läßt den Zügel fah¬
ren, mit welchem er den Willen innerhalb der Grenzen der
Wirklichkeit lenken soll. Da überdies die Schwärmerei gewöhn¬
lich einen geheimen Stolz nährt, worin der Mensch sich mit
dem Wahn bethört, die höchsten Staffeln menschlicher Verhält¬
nisse überfliegen zu können; so wird in der dadurch unterhal¬

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ihn hinreichend befaͤhigten. Nach einer 7monatlichen Behand¬
lung war er geiſtig und koͤrperlich ſo vollſtaͤndig wiedergeneſen
daß ſeine Entlaſſung ohne Bedenken erfolgen konnte.

19.

S., 40 Jahre alt, erhielt von ſeinen im Mittelſtande
lebenden Aeltern eine angemeſſene Erziehung, und beſuchte ein
hieſiges Gymnaſium, welches er indeß vor dem Eintritt in die
oberen Klaſſen verließ, um ſich dem kaufmaͤnniſchen Gewerbe
zu widmen. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend zeigte er einen,
nicht durch kraͤnkliche Reizbarkeit der Nerven bedingten Hang
zur Schwaͤrmerei und zum gruͤbleriſchen Nachſinnen in man¬
chen auffallenden Erſcheinungen; ſo uͤberreichte er z. B. einem
Lehrer einen Aufſatz, welcher allerlei Gedanken uͤber Schul¬
reformen enthielt, und uͤberhaupt wurde bei ihm der kindliche
Frohſinn vermißt, an deſſen Stelle ein geheimnißvolles Inſich¬
gekehrtſein trat. Dieſe naturwidrige Richtung ſeines Geiſtes
verirrte ſich ſogar zu phantaſtiſchen Sinnestaͤuſchungen, wie er
ſich |denn unter anderem einbildete, einmal von einem Geiſte
eine Treppe hinuntergetragen worden zu ſein. Wenn er ſich
auch ſeinem Berufe, in welchem er ein nicht geringes Talent
bewieſen haben ſoll, mit Neigung und Eifer ergab; ſo blieb
doch ſein erwaͤhnter Hang vorherrſchend, und veranlaßte ihn,
in den Mußeſtunden philoſophiſche, politiſche und religioͤſe
Schriften zu leſen, welche, anſtatt ihn in aͤchter Geiſtescultur
zu foͤrdern, ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten
Begriffen erfuͤllten, durch ſie ſein Urtheil irre leiteten, und
ihn außer Stand ſetzten, uͤber ſeine wahre Beſtimmung zum
deutlichen Bewußtſein zu kommen. In einer ſolchen Gedan¬
kenverwirrung giebt ſich der Verſtand leicht den Chimaͤren einer
erhitzten Einbildungskraft gefangen, und laͤßt den Zuͤgel fah¬
ren, mit welchem er den Willen innerhalb der Grenzen der
Wirklichkeit lenken ſoll. Da uͤberdies die Schwaͤrmerei gewoͤhn¬
lich einen geheimen Stolz naͤhrt, worin der Menſch ſich mit
dem Wahn bethoͤrt, die hoͤchſten Staffeln menſchlicher Verhaͤlt¬
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[211/0219] ihn hinreichend befaͤhigten. Nach einer 7monatlichen Behand¬ lung war er geiſtig und koͤrperlich ſo vollſtaͤndig wiedergeneſen daß ſeine Entlaſſung ohne Bedenken erfolgen konnte. 19. S., 40 Jahre alt, erhielt von ſeinen im Mittelſtande lebenden Aeltern eine angemeſſene Erziehung, und beſuchte ein hieſiges Gymnaſium, welches er indeß vor dem Eintritt in die oberen Klaſſen verließ, um ſich dem kaufmaͤnniſchen Gewerbe zu widmen. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend zeigte er einen, nicht durch kraͤnkliche Reizbarkeit der Nerven bedingten Hang zur Schwaͤrmerei und zum gruͤbleriſchen Nachſinnen in man¬ chen auffallenden Erſcheinungen; ſo uͤberreichte er z. B. einem Lehrer einen Aufſatz, welcher allerlei Gedanken uͤber Schul¬ reformen enthielt, und uͤberhaupt wurde bei ihm der kindliche Frohſinn vermißt, an deſſen Stelle ein geheimnißvolles Inſich¬ gekehrtſein trat. Dieſe naturwidrige Richtung ſeines Geiſtes verirrte ſich ſogar zu phantaſtiſchen Sinnestaͤuſchungen, wie er ſich |denn unter anderem einbildete, einmal von einem Geiſte eine Treppe hinuntergetragen worden zu ſein. Wenn er ſich auch ſeinem Berufe, in welchem er ein nicht geringes Talent bewieſen haben ſoll, mit Neigung und Eifer ergab; ſo blieb doch ſein erwaͤhnter Hang vorherrſchend, und veranlaßte ihn, in den Mußeſtunden philoſophiſche, politiſche und religioͤſe Schriften zu leſen, welche, anſtatt ihn in aͤchter Geiſtescultur zu foͤrdern, ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Begriffen erfuͤllten, durch ſie ſein Urtheil irre leiteten, und ihn außer Stand ſetzten, uͤber ſeine wahre Beſtimmung zum deutlichen Bewußtſein zu kommen. In einer ſolchen Gedan¬ kenverwirrung giebt ſich der Verſtand leicht den Chimaͤren einer erhitzten Einbildungskraft gefangen, und laͤßt den Zuͤgel fah¬ ren, mit welchem er den Willen innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit lenken ſoll. Da uͤberdies die Schwaͤrmerei gewoͤhn¬ lich einen geheimen Stolz naͤhrt, worin der Menſch ſich mit dem Wahn bethoͤrt, die hoͤchſten Staffeln menſchlicher Verhaͤlt¬ niſſe uͤberfliegen zu koͤnnen; ſo wird in der dadurch unterhal¬ 14 *

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/219>, abgerufen am 23.11.2024.