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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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tief einprägte. Hiermit brachte er insbesondere noch das 11.
Kapitel des Jesaia in Verbindung, welches ihm den Frieden
des erwarteten Gottesreichs in den lebendigsten Zügen vor Au¬
gen stellte. Es läßt sich nicht mehr bestimmen, zu welcher
Zeit er in jener enthusiastischen Aufregung wirkliche Visionen
von Christus hatte, welchen er im weißen Gewande, auf ei¬
ner Wolke unter Heiligenbildern thronend in magischer, unbe¬
stimmter Zeichnung sah; denn nur zu Anfang seines Aufent¬
halts in der Charite sprach er sich hierüber aus, und versi¬
cherte später, daß er sich nicht mehr deutlich darauf besinnen,
und sich nur einer dreimaligen augenblicklichen dunklen Vision
erinnern könne, in welcher geisterartige Gestalten vor seinem
Auge geschwebt hätten.

Indeß jedes Uebermaaß frommer Erregung, in welcher
das Gemüth seine innere Haltung verliert, schlägt fast noth¬
wendig in Gegensätze um, weil der Mensch nicht zum steten
Fluge in ekstatischer Spannung seiner Kräfte geschaffen ist,
und dann leicht eben so tief in Traurigkeit versinkt, als er
vorher den höchsten Aufschwung genommen hatte. Zwar scheint
es bei E. in der letzten Zeit nicht mehr zu Gewissensbissen
und zur Teufelsfurcht gekommen zu sein; aber er fühlte den
Widerspruch seiner schwärmerischen Stimmung zur Außenwelt
lebhaft genug, um hierdurch beunruhigt zu werden. Dieser
Widerspruch kam ihm in der Vorstellung zum Bewußtsein,
daß er wegen seiner Frömmigkeit, durch deren Ostentation er
früher schon oft genug Anstoß gegeben hatte, von Spöttern
verfolgt werde, indem dieselben auf der Straße sich um ihn
versammelten, Drohungen gegen ihn ausstießen, die Hunde
auf ihn hetzten, ja ihn selbst körperlich mißhandeln wollten.
Da er wegen großer Kurzsichtigkeit Niemanden deutlich erken¬
nen konnte, so kam er auf verschiedene Vermuthungen; bald
sollten seine Verfolger frühere Bekannte, bald sollten es Stu¬
denten sein, welche auf der Straße mit ihm eine dramatische
Scene aufführen wollten. Oder es kam ihm vor, als wenn
man ihm wider seinen Willen die Gunst von Mädchen auf¬
dringe, welche sich in ihn verliebt hätten. Alles dies beun¬
ruhigte ihn um so mehr, da er vergeblich erwartete, daß Je¬
mand ihm näher treten, und ihm über den Grund der Ver¬

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tief einpraͤgte. Hiermit brachte er insbeſondere noch das 11.
Kapitel des Jeſaia in Verbindung, welches ihm den Frieden
des erwarteten Gottesreichs in den lebendigſten Zuͤgen vor Au¬
gen ſtellte. Es laͤßt ſich nicht mehr beſtimmen, zu welcher
Zeit er in jener enthuſiaſtiſchen Aufregung wirkliche Viſionen
von Chriſtus hatte, welchen er im weißen Gewande, auf ei¬
ner Wolke unter Heiligenbildern thronend in magiſcher, unbe¬
ſtimmter Zeichnung ſah; denn nur zu Anfang ſeines Aufent¬
halts in der Charité ſprach er ſich hieruͤber aus, und verſi¬
cherte ſpaͤter, daß er ſich nicht mehr deutlich darauf beſinnen,
und ſich nur einer dreimaligen augenblicklichen dunklen Viſion
erinnern koͤnne, in welcher geiſterartige Geſtalten vor ſeinem
Auge geſchwebt haͤtten.

Indeß jedes Uebermaaß frommer Erregung, in welcher
das Gemuͤth ſeine innere Haltung verliert, ſchlaͤgt faſt noth¬
wendig in Gegenſaͤtze um, weil der Menſch nicht zum ſteten
Fluge in ekſtatiſcher Spannung ſeiner Kraͤfte geſchaffen iſt,
und dann leicht eben ſo tief in Traurigkeit verſinkt, als er
vorher den hoͤchſten Aufſchwung genommen hatte. Zwar ſcheint
es bei E. in der letzten Zeit nicht mehr zu Gewiſſensbiſſen
und zur Teufelsfurcht gekommen zu ſein; aber er fuͤhlte den
Widerſpruch ſeiner ſchwaͤrmeriſchen Stimmung zur Außenwelt
lebhaft genug, um hierdurch beunruhigt zu werden. Dieſer
Widerſpruch kam ihm in der Vorſtellung zum Bewußtſein,
daß er wegen ſeiner Froͤmmigkeit, durch deren Oſtentation er
fruͤher ſchon oft genug Anſtoß gegeben hatte, von Spoͤttern
verfolgt werde, indem dieſelben auf der Straße ſich um ihn
verſammelten, Drohungen gegen ihn ausſtießen, die Hunde
auf ihn hetzten, ja ihn ſelbſt koͤrperlich mißhandeln wollten.
Da er wegen großer Kurzſichtigkeit Niemanden deutlich erken¬
nen konnte, ſo kam er auf verſchiedene Vermuthungen; bald
ſollten ſeine Verfolger fruͤhere Bekannte, bald ſollten es Stu¬
denten ſein, welche auf der Straße mit ihm eine dramatiſche
Scene auffuͤhren wollten. Oder es kam ihm vor, als wenn
man ihm wider ſeinen Willen die Gunſt von Maͤdchen auf¬
dringe, welche ſich in ihn verliebt haͤtten. Alles dies beun¬
ruhigte ihn um ſo mehr, da er vergeblich erwartete, daß Je¬
mand ihm naͤher treten, und ihm uͤber den Grund der Ver¬

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[179/0187] tief einpraͤgte. Hiermit brachte er insbeſondere noch das 11. Kapitel des Jeſaia in Verbindung, welches ihm den Frieden des erwarteten Gottesreichs in den lebendigſten Zuͤgen vor Au¬ gen ſtellte. Es laͤßt ſich nicht mehr beſtimmen, zu welcher Zeit er in jener enthuſiaſtiſchen Aufregung wirkliche Viſionen von Chriſtus hatte, welchen er im weißen Gewande, auf ei¬ ner Wolke unter Heiligenbildern thronend in magiſcher, unbe¬ ſtimmter Zeichnung ſah; denn nur zu Anfang ſeines Aufent¬ halts in der Charité ſprach er ſich hieruͤber aus, und verſi¬ cherte ſpaͤter, daß er ſich nicht mehr deutlich darauf beſinnen, und ſich nur einer dreimaligen augenblicklichen dunklen Viſion erinnern koͤnne, in welcher geiſterartige Geſtalten vor ſeinem Auge geſchwebt haͤtten. Indeß jedes Uebermaaß frommer Erregung, in welcher das Gemuͤth ſeine innere Haltung verliert, ſchlaͤgt faſt noth¬ wendig in Gegenſaͤtze um, weil der Menſch nicht zum ſteten Fluge in ekſtatiſcher Spannung ſeiner Kraͤfte geſchaffen iſt, und dann leicht eben ſo tief in Traurigkeit verſinkt, als er vorher den hoͤchſten Aufſchwung genommen hatte. Zwar ſcheint es bei E. in der letzten Zeit nicht mehr zu Gewiſſensbiſſen und zur Teufelsfurcht gekommen zu ſein; aber er fuͤhlte den Widerſpruch ſeiner ſchwaͤrmeriſchen Stimmung zur Außenwelt lebhaft genug, um hierdurch beunruhigt zu werden. Dieſer Widerſpruch kam ihm in der Vorſtellung zum Bewußtſein, daß er wegen ſeiner Froͤmmigkeit, durch deren Oſtentation er fruͤher ſchon oft genug Anſtoß gegeben hatte, von Spoͤttern verfolgt werde, indem dieſelben auf der Straße ſich um ihn verſammelten, Drohungen gegen ihn ausſtießen, die Hunde auf ihn hetzten, ja ihn ſelbſt koͤrperlich mißhandeln wollten. Da er wegen großer Kurzſichtigkeit Niemanden deutlich erken¬ nen konnte, ſo kam er auf verſchiedene Vermuthungen; bald ſollten ſeine Verfolger fruͤhere Bekannte, bald ſollten es Stu¬ denten ſein, welche auf der Straße mit ihm eine dramatiſche Scene auffuͤhren wollten. Oder es kam ihm vor, als wenn man ihm wider ſeinen Willen die Gunſt von Maͤdchen auf¬ dringe, welche ſich in ihn verliebt haͤtten. Alles dies beun¬ ruhigte ihn um ſo mehr, da er vergeblich erwartete, daß Je¬ mand ihm naͤher treten, und ihm uͤber den Grund der Ver¬ 12*

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/187>, abgerufen am 27.04.2024.