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Ichenhaeuser, Eliza: Frauenziele. Berlin, 1913.

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Wie der Landarbeiterin geht es auch der häus-
lichen Arbeiterin. Auch sie strebt mit allen Fasern
aus der bereits in Verfall begriffenen patriarcha-
lischen Organisation hinaus zu freien, dem
modernen Empfinden zusagenden Lebensbe-
dingungen. "Es ist der gewaltige und rein psycho-
logische Zauber der Freiheit, welcher darin zum
Ausdruck gelangt," sagt Max Weber; "das Mittel-
alter ertrug es, daß in den Handelshäusern der
Städte durch Generationen hindurch die Hausge-
nossenschaft erhalten blieb, Vettern, Schwägerinnen
und Schwiegermütter miteinander am gleichen
Tische hausten. Heute drängt es uns zum eigenen
Herde: wir streben nach dem selbsterworbenen Brot
in der Fremde, hinweg vom Tisch des Elternhauses
und aus dem Kreise der Unseren, und das Schwere
der Situation ist, daß die Entwicklung der allge-
meinen Lebensverhältnisse die ersehnte wirtschaft-
liche Selbständigkeit bis in immer höhere Lebens-
alter hinein versagt."

Den Widerstrebenden ist durch diesen Vergleich
am eigenen Leibe gezeigt, daß man auch diese Fort-
entwicklung weder hindern kann noch darf, auch
wenn man den Vorteil für die nach ihr Strebenden
weder zu sehen, noch zu begreifen vermag.

Die Unfreiheit der häuslichen Arbeiterin äußert
sich vor allem in den Gesindeordnungen. Während
das Bürgerliche Gesetzbuch ein gemeinsames Recht

Wie der Landarbeiterin geht es auch der häus-
lichen Arbeiterin. Auch sie strebt mit allen Fasern
aus der bereits in Verfall begriffenen patriarcha-
lischen Organisation hinaus zu freien, dem
modernen Empfinden zusagenden Lebensbe-
dingungen. „Es ist der gewaltige und rein psycho-
logische Zauber der Freiheit, welcher darin zum
Ausdruck gelangt,“ sagt Max Weber; „das Mittel-
alter ertrug es, daß in den Handelshäusern der
Städte durch Generationen hindurch die Hausge-
nossenschaft erhalten blieb, Vettern, Schwägerinnen
und Schwiegermütter miteinander am gleichen
Tische hausten. Heute drängt es uns zum eigenen
Herde: wir streben nach dem selbsterworbenen Brot
in der Fremde, hinweg vom Tisch des Elternhauses
und aus dem Kreise der Unseren, und das Schwere
der Situation ist, daß die Entwicklung der allge-
meinen Lebensverhältnisse die ersehnte wirtschaft-
liche Selbständigkeit bis in immer höhere Lebens-
alter hinein versagt.“

Den Widerstrebenden ist durch diesen Vergleich
am eigenen Leibe gezeigt, daß man auch diese Fort-
entwicklung weder hindern kann noch darf, auch
wenn man den Vorteil für die nach ihr Strebenden
weder zu sehen, noch zu begreifen vermag.

Die Unfreiheit der häuslichen Arbeiterin äußert
sich vor allem in den Gesindeordnungen. Während
das Bürgerliche Gesetzbuch ein gemeinsames Recht

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[79/0083] Wie der Landarbeiterin geht es auch der häus- lichen Arbeiterin. Auch sie strebt mit allen Fasern aus der bereits in Verfall begriffenen patriarcha- lischen Organisation hinaus zu freien, dem modernen Empfinden zusagenden Lebensbe- dingungen. „Es ist der gewaltige und rein psycho- logische Zauber der Freiheit, welcher darin zum Ausdruck gelangt,“ sagt Max Weber; „das Mittel- alter ertrug es, daß in den Handelshäusern der Städte durch Generationen hindurch die Hausge- nossenschaft erhalten blieb, Vettern, Schwägerinnen und Schwiegermütter miteinander am gleichen Tische hausten. Heute drängt es uns zum eigenen Herde: wir streben nach dem selbsterworbenen Brot in der Fremde, hinweg vom Tisch des Elternhauses und aus dem Kreise der Unseren, und das Schwere der Situation ist, daß die Entwicklung der allge- meinen Lebensverhältnisse die ersehnte wirtschaft- liche Selbständigkeit bis in immer höhere Lebens- alter hinein versagt.“ Den Widerstrebenden ist durch diesen Vergleich am eigenen Leibe gezeigt, daß man auch diese Fort- entwicklung weder hindern kann noch darf, auch wenn man den Vorteil für die nach ihr Strebenden weder zu sehen, noch zu begreifen vermag. Die Unfreiheit der häuslichen Arbeiterin äußert sich vor allem in den Gesindeordnungen. Während das Bürgerliche Gesetzbuch ein gemeinsames Recht

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Zitationshilfe: Ichenhaeuser, Eliza: Frauenziele. Berlin, 1913, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ichenhaeuser_frauenziele_1913/83>, abgerufen am 23.11.2024.