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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

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Schilderung einer Naturscene, selbst da, wo dazu Veranlassung war. Bei der sonst umständlichen Beschreibung der Jagd, auf welcher Siegfried ermordet wird, geschieht nur Erwähnung der blumenreichen Heide und des kühlen Brunnens unter der Linde. In der Gudrun, die eine gewisse feinere Ausbildung zeigt, bricht der Sinn für die Natur etwas mehr durch. Als die Königstochter mit ihren Gefährten, zu niedrigem Sklavendienst gezwungen, die Gewänder ihrer grausamen Gebieter an das Ufer des Meeres trägt, wird die Zeit bezeichnet, wo der Winter sich eben gelöst und der Wettgesang der Vögel beginnt. Noch fallen Schnee und Regen herab, und das Haar der Jungfrauen wird vom rauhen Märzwinde gepeitscht. Als Gudrun, ihre Befreier erwartend, das Lager verläßt und nun das Meer beim Aufgang des Morgensterns zu schimmern beginnt, unterscheidet sie die dunkeln Helme und die Schilde der Freunde. Es sind wenige Worte, welche dies andeuten, aber sie geben ein anschauliches Bild, bestimmt die Spannung vor einem wichtigen geschichtlichen Ereigniß zu vermehren. Nicht anders macht es Homer, wenn er die Cyclopen-Insel schildert und die geordneten Gärten des Alcinous: er will anschaulich machen die üppige Fülle der Wildniß, in der die riesigen Ungeheuer leben, und den prächtigen Wohnsitz eines mächtigen Königs. Beide Dichter gehen nicht darauf aus eine für sich bestehende Naturschilderung zu entwerfen."

"Dem schlichten Volksepos stehen die inhaltreichen Erzählungen der ritterlichen Dichter des dreizehnten Jahrhunderts entgegen, die eine bewußte Kunst übten und unter welchen sich Hartmann von Aue, Wolfram von Eschen-

Schilderung einer Naturscene, selbst da, wo dazu Veranlassung war. Bei der sonst umständlichen Beschreibung der Jagd, auf welcher Siegfried ermordet wird, geschieht nur Erwähnung der blumenreichen Heide und des kühlen Brunnens unter der Linde. In der Gudrun, die eine gewisse feinere Ausbildung zeigt, bricht der Sinn für die Natur etwas mehr durch. Als die Königstochter mit ihren Gefährten, zu niedrigem Sklavendienst gezwungen, die Gewänder ihrer grausamen Gebieter an das Ufer des Meeres trägt, wird die Zeit bezeichnet, wo der Winter sich eben gelöst und der Wettgesang der Vögel beginnt. Noch fallen Schnee und Regen herab, und das Haar der Jungfrauen wird vom rauhen Märzwinde gepeitscht. Als Gudrun, ihre Befreier erwartend, das Lager verläßt und nun das Meer beim Aufgang des Morgensterns zu schimmern beginnt, unterscheidet sie die dunkeln Helme und die Schilde der Freunde. Es sind wenige Worte, welche dies andeuten, aber sie geben ein anschauliches Bild, bestimmt die Spannung vor einem wichtigen geschichtlichen Ereigniß zu vermehren. Nicht anders macht es Homer, wenn er die Cyclopen-Insel schildert und die geordneten Gärten des Alcinous: er will anschaulich machen die üppige Fülle der Wildniß, in der die riesigen Ungeheuer leben, und den prächtigen Wohnsitz eines mächtigen Königs. Beide Dichter gehen nicht darauf aus eine für sich bestehende Naturschilderung zu entwerfen."

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[34/0039] Schilderung einer Naturscene, selbst da, wo dazu Veranlassung war. Bei der sonst umständlichen Beschreibung der Jagd, auf welcher Siegfried ermordet wird, geschieht nur Erwähnung der blumenreichen Heide und des kühlen Brunnens unter der Linde. In der Gudrun, die eine gewisse feinere Ausbildung zeigt, bricht der Sinn für die Natur etwas mehr durch. Als die Königstochter mit ihren Gefährten, zu niedrigem Sklavendienst gezwungen, die Gewänder ihrer grausamen Gebieter an das Ufer des Meeres trägt, wird die Zeit bezeichnet, wo der Winter sich eben gelöst und der Wettgesang der Vögel beginnt. Noch fallen Schnee und Regen herab, und das Haar der Jungfrauen wird vom rauhen Märzwinde gepeitscht. Als Gudrun, ihre Befreier erwartend, das Lager verläßt und nun das Meer beim Aufgang des Morgensterns zu schimmern beginnt, unterscheidet sie die dunkeln Helme und die Schilde der Freunde. Es sind wenige Worte, welche dies andeuten, aber sie geben ein anschauliches Bild, bestimmt die Spannung vor einem wichtigen geschichtlichen Ereigniß zu vermehren. Nicht anders macht es Homer, wenn er die Cyclopen-Insel schildert und die geordneten Gärten des Alcinous: er will anschaulich machen die üppige Fülle der Wildniß, in der die riesigen Ungeheuer leben, und den prächtigen Wohnsitz eines mächtigen Königs. Beide Dichter gehen nicht darauf aus eine für sich bestehende Naturschilderung zu entwerfen." „Dem schlichten Volksepos stehen die inhaltreichen Erzählungen der ritterlichen Dichter des dreizehnten Jahrhunderts entgegen, die eine bewußte Kunst übten und unter welchen sich Hartmann von Aue, Wolfram von Eschen-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/39>, abgerufen am 23.11.2024.