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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

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Freude an der Natur, dem beschaulichen Hang der germanischen Nationen eigenthümlich, spricht sich in einem hohen Grade in den frühesten Gedichten des Mittelalters aus. Die ritterliche Poesie der Minnesänger in der hohenstaufischen Zeit giebt zahlreiche Beweise dafür. So mannigfaltige historische Berührungspunkte auch diese Poesie mit der romanischen der Provenzalen hat, so ist doch das ächt germanische Princip nie daran verkannt worden. Ein inniges, alles durchdringendes Naturgefühl leuchtet aus den germanischen Sitten und allen Einrichtungen des Lebens, ja aus dem Hange zur Freiheit hervor.52 Viel in höfischen Kreisen lebend, ja oft aus ihnen entsprossen, blieben die wandernden Minnesänger mit der Natur in beständigem Verkehr. Es erhielt sich frisch in ihnen eine idyllische, oft elegische Gemüthsstimmung. Um das zu würdigen, was eine solche Stimmung hervorgebracht, wende ich mich zu den Forschungen der tiefsten Kenner unseres deutschen Mittelalters, zu meinen edeln Freunden Jacob und Wilhelm Grimm. "Die vaterländischen Dichter jener Epoche", sagt der Letztere, "haben sich nirgends einer abgesonderten Naturschilderung hingegeben, einer solchen, die kein anderes Ziel hat, als den Eindruck der Landschaft auf das Gemüth mit glänzenden Farben darzustellen. Der Sinn für die Natur fehlte den altdeutschen Meistern gewiß nicht; aber sie hinterließen uns keine andre Aeußerung dieses Sinnes als die, welche der Zusammenhang mit geschichtlichen Vorfällen oder mit den Empfindungen erlaubte, die in lyrische Gedichte ausströmten. Um mit dem Volksepos, den ältesten und werthvollsten Denkmälern, zu beginnen, so findet sich weder in den Nibelungen noch in der Gudrun53 die

Freude an der Natur, dem beschaulichen Hang der germanischen Nationen eigenthümlich, spricht sich in einem hohen Grade in den frühesten Gedichten des Mittelalters aus. Die ritterliche Poesie der Minnesänger in der hohenstaufischen Zeit giebt zahlreiche Beweise dafür. So mannigfaltige historische Berührungspunkte auch diese Poesie mit der romanischen der Provenzalen hat, so ist doch das ächt germanische Princip nie daran verkannt worden. Ein inniges, alles durchdringendes Naturgefühl leuchtet aus den germanischen Sitten und allen Einrichtungen des Lebens, ja aus dem Hange zur Freiheit hervor.52 Viel in höfischen Kreisen lebend, ja oft aus ihnen entsprossen, blieben die wandernden Minnesänger mit der Natur in beständigem Verkehr. Es erhielt sich frisch in ihnen eine idyllische, oft elegische Gemüthsstimmung. Um das zu würdigen, was eine solche Stimmung hervorgebracht, wende ich mich zu den Forschungen der tiefsten Kenner unseres deutschen Mittelalters, zu meinen edeln Freunden Jacob und Wilhelm Grimm. „Die vaterländischen Dichter jener Epoche", sagt der Letztere, „haben sich nirgends einer abgesonderten Naturschilderung hingegeben, einer solchen, die kein anderes Ziel hat, als den Eindruck der Landschaft auf das Gemüth mit glänzenden Farben darzustellen. Der Sinn für die Natur fehlte den altdeutschen Meistern gewiß nicht; aber sie hinterließen uns keine andre Aeußerung dieses Sinnes als die, welche der Zusammenhang mit geschichtlichen Vorfällen oder mit den Empfindungen erlaubte, die in lyrische Gedichte ausströmten. Um mit dem Volksepos, den ältesten und werthvollsten Denkmälern, zu beginnen, so findet sich weder in den Nibelungen noch in der Gudrun53 die

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[33/0038] Freude an der Natur, dem beschaulichen Hang der germanischen Nationen eigenthümlich, spricht sich in einem hohen Grade in den frühesten Gedichten des Mittelalters aus. Die ritterliche Poesie der Minnesänger in der hohenstaufischen Zeit giebt zahlreiche Beweise dafür. So mannigfaltige historische Berührungspunkte auch diese Poesie mit der romanischen der Provenzalen hat, so ist doch das ächt germanische Princip nie daran verkannt worden. Ein inniges, alles durchdringendes Naturgefühl leuchtet aus den germanischen Sitten und allen Einrichtungen des Lebens, ja aus dem Hange zur Freiheit hervor. ⁵² Viel in höfischen Kreisen lebend, ja oft aus ihnen entsprossen, blieben die wandernden Minnesänger mit der Natur in beständigem Verkehr. Es erhielt sich frisch in ihnen eine idyllische, oft elegische Gemüthsstimmung. Um das zu würdigen, was eine solche Stimmung hervorgebracht, wende ich mich zu den Forschungen der tiefsten Kenner unseres deutschen Mittelalters, zu meinen edeln Freunden Jacob und Wilhelm Grimm. „Die vaterländischen Dichter jener Epoche", sagt der Letztere, „haben sich nirgends einer abgesonderten Naturschilderung hingegeben, einer solchen, die kein anderes Ziel hat, als den Eindruck der Landschaft auf das Gemüth mit glänzenden Farben darzustellen. Der Sinn für die Natur fehlte den altdeutschen Meistern gewiß nicht; aber sie hinterließen uns keine andre Aeußerung dieses Sinnes als die, welche der Zusammenhang mit geschichtlichen Vorfällen oder mit den Empfindungen erlaubte, die in lyrische Gedichte ausströmten. Um mit dem Volksepos, den ältesten und werthvollsten Denkmälern, zu beginnen, so findet sich weder in den Nibelungen noch in der Gudrun ⁵³ die

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/38>, abgerufen am 23.04.2024.