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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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fort, dasselbe anzuwenden. Von allen diesen Schriften und
Aufsätzen, durch die er seine Principien in die Gebiete des in-
dividuellen Lebens, der Rechts- und Staatsverhältnisse, der
Religion hineintrug, war im Jahre 1792 noch nichts erschienen.
Eben so wenig war damals schon irgend ein Anfang damit ge-
macht, die durch die strenge Zucht der Kant'schen Methode
gestählte Denkkraft in freier und unabhängiger Weise zu hand-
haben. Schiller war noch mit keiner der philosophischen Arbei-
ten hervorgetreten, welche die Früchte seiner Vertiefung in das
Studium Kants waren. Fichte's Name wurde noch nicht ge-
nannt. Es waren die Jahre der unbedingten Herrschaft des
Kant'schen Systems, der sich, wenn wir von F. H. Jacobi's
isolirter Erscheinung absehn, Alle willig fügten, die überhaupt
von der geistigen Bewegung der Zeit ergriffen waren. Hält
man sich diese Lage der Dinge gegenwärtig, so muss man in
unserer Schrift die erste Bethätigung der wieder anhebenden
Selbstständigkeit des Denkens erkennen. Und zwar macht
sich diese Selbstständigkeit nach zwei Seiten hin geltend, ein-
mal darin, dass Kants Grundsätze hier zuerst in Gebiete hin-
eingetragen sind, die von dem Meister bis dahin noch nicht
betreten waren; sodann darin, dass diese Grundsätze selbst
hier zuerst sich zu vertiefen und zu verlebendigen beginnen.
In ersterer Rücksicht ist es von ungemeinem Interesse, die
Ansichten, die Kant in seinen späteren Schriften 1) über die-
selben Materien entwickelt hat, zur Vergleichung heranzu-
ziehen. Wie mir scheint, muss eine solche Vergleichung
durchaus zu Humboldts Gunsten ausschlagen. -- Er ist in der
Anwendung von Kants Maximen auf das Recht und den Staat
glücklicher gewesen, als der Urheber derselben; er hat ihn an

1) Vergl. besonders: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königs-
berg 1797. Dann die schon vorher, 1795 erschienene Abhandlung: Zum ewigen
Frieden; endlich: Der Streit der Fakultäten. Königsberg 1798, wo namentlich
das über das Verhältniss der Staatsregierung zur Religion Gesagte interessante
Vergleichungspunkte darbietet.
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fort, dasselbe anzuwenden. Von allen diesen Schriften und
Aufsätzen, durch die er seine Principien in die Gebiete des in-
dividuellen Lebens, der Rechts- und Staatsverhältnisse, der
Religion hineintrug, war im Jahre 1792 noch nichts erschienen.
Eben so wenig war damals schon irgend ein Anfang damit ge-
macht, die durch die strenge Zucht der Kant’schen Methode
gestählte Denkkraft in freier und unabhängiger Weise zu hand-
haben. Schiller war noch mit keiner der philosophischen Arbei-
ten hervorgetreten, welche die Früchte seiner Vertiefung in das
Studium Kants waren. Fichte’s Name wurde noch nicht ge-
nannt. Es waren die Jahre der unbedingten Herrschaft des
Kant’schen Systems, der sich, wenn wir von F. H. Jacobi’s
isolirter Erscheinung absehn, Alle willig fügten, die überhaupt
von der geistigen Bewegung der Zeit ergriffen waren. Hält
man sich diese Lage der Dinge gegenwärtig, so muss man in
unserer Schrift die erste Bethätigung der wieder anhebenden
Selbstständigkeit des Denkens erkennen. Und zwar macht
sich diese Selbstständigkeit nach zwei Seiten hin geltend, ein-
mal darin, dass Kants Grundsätze hier zuerst in Gebiete hin-
eingetragen sind, die von dem Meister bis dahin noch nicht
betreten waren; sodann darin, dass diese Grundsätze selbst
hier zuerst sich zu vertiefen und zu verlebendigen beginnen.
In ersterer Rücksicht ist es von ungemeinem Interesse, die
Ansichten, die Kant in seinen späteren Schriften 1) über die-
selben Materien entwickelt hat, zur Vergleichung heranzu-
ziehen. Wie mir scheint, muss eine solche Vergleichung
durchaus zu Humboldts Gunsten ausschlagen. — Er ist in der
Anwendung von Kants Maximen auf das Recht und den Staat
glücklicher gewesen, als der Urheber derselben; er hat ihn an

1) Vergl. besonders: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königs-
berg 1797. Dann die schon vorher, 1795 erschienene Abhandlung: Zum ewigen
Frieden; endlich: Der Streit der Fakultäten. Königsberg 1798, wo namentlich
das über das Verhältniss der Staatsregierung zur Religion Gesagte interessante
Vergleichungspunkte darbietet.
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[XXV/0033] fort, dasselbe anzuwenden. Von allen diesen Schriften und Aufsätzen, durch die er seine Principien in die Gebiete des in- dividuellen Lebens, der Rechts- und Staatsverhältnisse, der Religion hineintrug, war im Jahre 1792 noch nichts erschienen. Eben so wenig war damals schon irgend ein Anfang damit ge- macht, die durch die strenge Zucht der Kant’schen Methode gestählte Denkkraft in freier und unabhängiger Weise zu hand- haben. Schiller war noch mit keiner der philosophischen Arbei- ten hervorgetreten, welche die Früchte seiner Vertiefung in das Studium Kants waren. Fichte’s Name wurde noch nicht ge- nannt. Es waren die Jahre der unbedingten Herrschaft des Kant’schen Systems, der sich, wenn wir von F. H. Jacobi’s isolirter Erscheinung absehn, Alle willig fügten, die überhaupt von der geistigen Bewegung der Zeit ergriffen waren. Hält man sich diese Lage der Dinge gegenwärtig, so muss man in unserer Schrift die erste Bethätigung der wieder anhebenden Selbstständigkeit des Denkens erkennen. Und zwar macht sich diese Selbstständigkeit nach zwei Seiten hin geltend, ein- mal darin, dass Kants Grundsätze hier zuerst in Gebiete hin- eingetragen sind, die von dem Meister bis dahin noch nicht betreten waren; sodann darin, dass diese Grundsätze selbst hier zuerst sich zu vertiefen und zu verlebendigen beginnen. In ersterer Rücksicht ist es von ungemeinem Interesse, die Ansichten, die Kant in seinen späteren Schriften 1) über die- selben Materien entwickelt hat, zur Vergleichung heranzu- ziehen. Wie mir scheint, muss eine solche Vergleichung durchaus zu Humboldts Gunsten ausschlagen. — Er ist in der Anwendung von Kants Maximen auf das Recht und den Staat glücklicher gewesen, als der Urheber derselben; er hat ihn an 1) Vergl. besonders: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königs- berg 1797. Dann die schon vorher, 1795 erschienene Abhandlung: Zum ewigen Frieden; endlich: Der Streit der Fakultäten. Königsberg 1798, wo namentlich das über das Verhältniss der Staatsregierung zur Religion Gesagte interessante Vergleichungspunkte darbietet. c

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. XXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/33>, abgerufen am 19.04.2024.