Feinheit, Schärfe, Consequenz übertroffen. -- Es würde uns zu weit führen, dieses Urtheil durch eine Zusammenstellung der beidersei- tigen Raisonnements etwa über die Ehe, das Erbrecht, das Straf- gesetz, über den Begriff der Staatsgewalt selber zu begründen.
Aber von noch ungleich grösserer Bedeutung ist die Hum- boldt'sche Schrift da, wo sie über Kant nicht in der Anwen- dung seiner Gedanken, sondern in ihrer Auffassung selbst hinausgeht. Zum Theil geschieht es in vollkommen bewusster Weise, und aus der Art, in der mehrmals auf Kant Bezug ge- nommen wird, erkennt man durch die unbegränzte Bewun- derung hindurch, die Humboldt ihm zollt, doch bereits deutlich ein durchaus freies und selbst kritisches Verhalten. Humboldt wahrt sich in den Fragen der Moral und Aesthetik sehr be- stimmt die Selbstständigkeit seines Urtheils. Der Theorie, die Kant in der Kritik der Urtheilskraft von dem Wesen der schönen Künste und ihrer Rangordnung gegeben hat, stellt er seine eigne entgegen. Wer wollte leugnen, dass die letztere weit tiefer gegriffen und weit sinniger durchgeführt ist? Hum- boldt hat in den ästhetischen Andeutungen dieser Schrift bereits denselben Weg aus dem Kant'schen Systeme hinaus gefunden, den gleich nach ihm Schiller betrat, und auf dem sie dann Beide Hand in Hand zu so bedeutenden Resultaten gekommen sind. -- Aber nicht minder, als in den ästhetischen Principien stellt diese Schrift in den moralischen einen bemerkenswerthen Fortschritt gegen Kant dar. Ja es ist in ihnen im Wesent- lichen bereits Fichte's Standpunkt erreicht. Indem Humboldt dazu kommt, die Energie die erste und einzige Tugend des Menschen zu nennen, womit zugleich die Trägheit als das eigentlich böse Princip in der menschlichen Natur bezeichnet ist, hat er in der That den Kernpunkt der Fichte'schen "Sit- tenlehre" getroffen. Nur dass der Gedanke in unsrer Schrift sogleich eine Wendung auf das Politische bekommt.
Die öffentlichen Verhältnisse sollen so geordnet werden,
Feinheit, Schärfe, Consequenz übertroffen. — Es würde uns zu weit führen, dieses Urtheil durch eine Zusammenstellung der beidersei- tigen Raisonnements etwa über die Ehe, das Erbrecht, das Straf- gesetz, über den Begriff der Staatsgewalt selber zu begründen.
Aber von noch ungleich grösserer Bedeutung ist die Hum- boldt’sche Schrift da, wo sie über Kant nicht in der Anwen- dung seiner Gedanken, sondern in ihrer Auffassung selbst hinausgeht. Zum Theil geschieht es in vollkommen bewusster Weise, und aus der Art, in der mehrmals auf Kant Bezug ge- nommen wird, erkennt man durch die unbegränzte Bewun- derung hindurch, die Humboldt ihm zollt, doch bereits deutlich ein durchaus freies und selbst kritisches Verhalten. Humboldt wahrt sich in den Fragen der Moral und Aesthetik sehr be- stimmt die Selbstständigkeit seines Urtheils. Der Theorie, die Kant in der Kritik der Urtheilskraft von dem Wesen der schönen Künste und ihrer Rangordnung gegeben hat, stellt er seine eigne entgegen. Wer wollte leugnen, dass die letztere weit tiefer gegriffen und weit sinniger durchgeführt ist? Hum- boldt hat in den ästhetischen Andeutungen dieser Schrift bereits denselben Weg aus dem Kant’schen Systeme hinaus gefunden, den gleich nach ihm Schiller betrat, und auf dem sie dann Beide Hand in Hand zu so bedeutenden Resultaten gekommen sind. — Aber nicht minder, als in den ästhetischen Principien stellt diese Schrift in den moralischen einen bemerkenswerthen Fortschritt gegen Kant dar. Ja es ist in ihnen im Wesent- lichen bereits Fichte’s Standpunkt erreicht. Indem Humboldt dazu kommt, die Energie die erste und einzige Tugend des Menschen zu nennen, womit zugleich die Trägheit als das eigentlich böse Princip in der menschlichen Natur bezeichnet ist, hat er in der That den Kernpunkt der Fichte’schen „Sit- tenlehre“ getroffen. Nur dass der Gedanke in unsrer Schrift sogleich eine Wendung auf das Politische bekommt.
Die öffentlichen Verhältnisse sollen so geordnet werden,
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[XXVI/0034]
Feinheit, Schärfe, Consequenz übertroffen. — Es würde uns zu weit
führen, dieses Urtheil durch eine Zusammenstellung der beidersei-
tigen Raisonnements etwa über die Ehe, das Erbrecht, das Straf-
gesetz, über den Begriff der Staatsgewalt selber zu begründen.
Aber von noch ungleich grösserer Bedeutung ist die Hum-
boldt’sche Schrift da, wo sie über Kant nicht in der Anwen-
dung seiner Gedanken, sondern in ihrer Auffassung selbst
hinausgeht. Zum Theil geschieht es in vollkommen bewusster
Weise, und aus der Art, in der mehrmals auf Kant Bezug ge-
nommen wird, erkennt man durch die unbegränzte Bewun-
derung hindurch, die Humboldt ihm zollt, doch bereits deutlich
ein durchaus freies und selbst kritisches Verhalten. Humboldt
wahrt sich in den Fragen der Moral und Aesthetik sehr be-
stimmt die Selbstständigkeit seines Urtheils. Der Theorie,
die Kant in der Kritik der Urtheilskraft von dem Wesen der
schönen Künste und ihrer Rangordnung gegeben hat, stellt er
seine eigne entgegen. Wer wollte leugnen, dass die letztere
weit tiefer gegriffen und weit sinniger durchgeführt ist? Hum-
boldt hat in den ästhetischen Andeutungen dieser Schrift bereits
denselben Weg aus dem Kant’schen Systeme hinaus gefunden,
den gleich nach ihm Schiller betrat, und auf dem sie dann Beide
Hand in Hand zu so bedeutenden Resultaten gekommen sind. —
Aber nicht minder, als in den ästhetischen Principien stellt
diese Schrift in den moralischen einen bemerkenswerthen
Fortschritt gegen Kant dar. Ja es ist in ihnen im Wesent-
lichen bereits Fichte’s Standpunkt erreicht. Indem Humboldt
dazu kommt, die Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen zu nennen, womit zugleich die Trägheit als das
eigentlich böse Princip in der menschlichen Natur bezeichnet
ist, hat er in der That den Kernpunkt der Fichte’schen „Sit-
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sogleich eine Wendung auf das Politische bekommt.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. XXVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/34>, abgerufen am 16.07.2024.
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