Musik allein eigen. Kant +) bemerkt eben sie als möglich bei einer wechselnden Farbenmischung, und in noch höherem Grade ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl empfinden. Selbst bei dem Geschmack ist sie unverkennbar. Auch im Geschmack ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich gleichsam nach einer Auflösung sehnt, und nach der gefundnen Auflösung in schwächeren Vibrationen nach und nach verschwindet. Am dunkelsten dürfte dies bei dem Geruch sein. Wie nun im empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad, ihr wechselndes Steigen und Fallen, ihre -- wenn ich mich so ausdrücken darf -- reine und volle Harmonie eigentlich das anziehendste, und anziehender ist, als der Stoff selbst, insofern man nämlich vergisst, dass die Natur des Stoffes vorzüglich den Grad, und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt; und wie der empfindende Mensch -- gleichsam das Bild des blüthetreibenden Frühlings--gerade das interessanteste Schau- spiel ist, so sucht auch der Mensch gleichsam dies Bild seiner Empfindung, mehr als irgend etwas andres, in allen schönen Künsten. So macht die Malerei, selbst die Plastik es sich eigen. Das Auge der Guido Reni'schen Madonna hält sich gleichsam nicht in den Schranken eines flüchtigen Augenblicks. Die angespannte Muskel des Borghesischen Fechters verkündet den Stoss, den er zu vollführen bereit ist. Und in noch höherem Grade benutzt dies die Dichtkunst. Ohne hier eigentlich von dem Range der schönen Künste reden zu wollen, sei es mir erlaubt, nur noch Folgendes hinzuzusetzen, um meine Idee deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen eine doppelte Wirkung hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft; sie geben unmittelbar Ideen, oder regen die Empfindung auf, stimmen den Ton der Seele, oder, wenn der Ausdruck nicht zu gekün-
+) Kritik der Urtheilskraft p. 211. ff.
Musik allein eigen. Kant †) bemerkt eben sie als möglich bei einer wechselnden Farbenmischung, und in noch höherem Grade ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl empfinden. Selbst bei dem Geschmack ist sie unverkennbar. Auch im Geschmack ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich gleichsam nach einer Auflösung sehnt, und nach der gefundnen Auflösung in schwächeren Vibrationen nach und nach verschwindet. Am dunkelsten dürfte dies bei dem Geruch sein. Wie nun im empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad, ihr wechselndes Steigen und Fallen, ihre — wenn ich mich so ausdrücken darf — reine und volle Harmonie eigentlich das anziehendste, und anziehender ist, als der Stoff selbst, insofern man nämlich vergisst, dass die Natur des Stoffes vorzüglich den Grad, und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt; und wie der empfindende Mensch — gleichsam das Bild des blüthetreibenden Frühlings—gerade das interessanteste Schau- spiel ist, so sucht auch der Mensch gleichsam dies Bild seiner Empfindung, mehr als irgend etwas andres, in allen schönen Künsten. So macht die Malerei, selbst die Plastik es sich eigen. Das Auge der Guido Reni’schen Madonna hält sich gleichsam nicht in den Schranken eines flüchtigen Augenblicks. Die angespannte Muskel des Borghesischen Fechters verkündet den Stoss, den er zu vollführen bereit ist. Und in noch höherem Grade benutzt dies die Dichtkunst. Ohne hier eigentlich von dem Range der schönen Künste reden zu wollen, sei es mir erlaubt, nur noch Folgendes hinzuzusetzen, um meine Idee deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen eine doppelte Wirkung hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft; sie geben unmittelbar Ideen, oder regen die Empfindung auf, stimmen den Ton der Seele, oder, wenn der Ausdruck nicht zu gekün-
†) Kritik der Urtheilskraft p. 211. ff.
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Musik allein eigen. Kant †) bemerkt eben sie als möglich bei
einer wechselnden Farbenmischung, und in noch höherem Grade
ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl empfinden. Selbst
bei dem Geschmack ist sie unverkennbar. Auch im Geschmack
ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich gleichsam nach
einer Auflösung sehnt, und nach der gefundnen Auflösung in
schwächeren Vibrationen nach und nach verschwindet. Am
dunkelsten dürfte dies bei dem Geruch sein. Wie nun im
empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad,
ihr wechselndes Steigen und Fallen, ihre — wenn ich mich so
ausdrücken darf — reine und volle Harmonie eigentlich das
anziehendste, und anziehender ist, als der Stoff selbst, insofern
man nämlich vergisst, dass die Natur des Stoffes vorzüglich
den Grad, und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt;
und wie der empfindende Mensch — gleichsam das Bild des
blüthetreibenden Frühlings—gerade das interessanteste Schau-
spiel ist, so sucht auch der Mensch gleichsam dies Bild seiner
Empfindung, mehr als irgend etwas andres, in allen schönen
Künsten. So macht die Malerei, selbst die Plastik es sich eigen.
Das Auge der Guido Reni’schen Madonna hält sich gleichsam
nicht in den Schranken eines flüchtigen Augenblicks. Die
angespannte Muskel des Borghesischen Fechters verkündet den
Stoss, den er zu vollführen bereit ist. Und in noch höherem
Grade benutzt dies die Dichtkunst. Ohne hier eigentlich von
dem Range der schönen Künste reden zu wollen, sei es mir
erlaubt, nur noch Folgendes hinzuzusetzen, um meine Idee
deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen eine doppelte
Wirkung hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch
bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft; sie geben
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†) Kritik der Urtheilskraft p. 211. ff.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/124>, abgerufen am 16.02.2025.
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