Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

er bemerkt sehr richtig, dass dies auch zum Maassstabe die
Kultur voraussetzt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen,
und ich möchte hinzusetzen, welche sie ihm unmittelbar ver-
schaffen.

Es fragt sich indess, ob dies der richtige Maassstab sei?
Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was
ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber
der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt
auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm dar-
stellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfin-
dungen jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle
folgende wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen
Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Dies
alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik blos
diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe,
welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten
Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich
viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des
Hörenden -- insofern derselbe nur überhaupt und gleichsam
der Gattung nach, in einer verwandten Stimmung ist -- wirk-
lich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer
eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was
ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenom-
men, als empfunden zu werden. Andre Eigenthümlichkeiten
und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da sie aus natürlichen
Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als
Malerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe ich hier, da es mir
nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen,
sondern ich sie nur als ein Beispiel brauche, um an ihr die ver-
schiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher dar-
zustellen.

Die eben geschilderte Art zu wirken, ist nun nicht der

er bemerkt sehr richtig, dass dies auch zum Maassstabe die
Kultur voraussetzt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen,
und ich möchte hinzusetzen, welche sie ihm unmittelbar ver-
schaffen.

Es fragt sich indess, ob dies der richtige Maassstab sei?
Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was
ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber
der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt
auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm dar-
stellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfin-
dungen jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle
folgende wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen
Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Dies
alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik blos
diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe,
welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten
Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich
viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des
Hörenden — insofern derselbe nur überhaupt und gleichsam
der Gattung nach, in einer verwandten Stimmung ist — wirk-
lich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer
eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was
ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenom-
men, als empfunden zu werden. Andre Eigenthümlichkeiten
und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da sie aus natürlichen
Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als
Malerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe ich hier, da es mir
nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen,
sondern ich sie nur als ein Beispiel brauche, um an ihr die ver-
schiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher dar-
zustellen.

Die eben geschilderte Art zu wirken, ist nun nicht der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0123" n="87"/>
er bemerkt sehr richtig, dass dies auch zum Maassstabe die<lb/>
Kultur voraussetzt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen,<lb/>
und ich möchte hinzusetzen, welche sie ihm <hi rendition="#g">unmittelbar</hi> ver-<lb/>
schaffen.</p><lb/>
        <p>Es fragt sich indess, ob dies der richtige Maassstab sei?<lb/>
Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des<lb/>
Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was<lb/>
ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber<lb/>
der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt<lb/>
auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm dar-<lb/>
stellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfin-<lb/>
dungen jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle<lb/>
folgende wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen<lb/>
Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Dies<lb/>
alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik blos<lb/>
diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe,<lb/>
welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten<lb/>
Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich<lb/>
viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des<lb/>
Hörenden &#x2014; insofern derselbe nur überhaupt und gleichsam<lb/>
der Gattung nach, in einer verwandten Stimmung ist &#x2014; wirk-<lb/>
lich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer<lb/>
eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was<lb/>
ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenom-<lb/>
men, als empfunden zu werden. Andre Eigenthümlichkeiten<lb/>
und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da sie aus natürlichen<lb/>
Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als<lb/>
Malerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe ich hier, da es mir<lb/>
nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen,<lb/>
sondern ich sie nur als ein Beispiel brauche, um an ihr die ver-<lb/>
schiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher dar-<lb/>
zustellen.</p><lb/>
        <p>Die eben geschilderte Art zu wirken, ist nun nicht der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0123] er bemerkt sehr richtig, dass dies auch zum Maassstabe die Kultur voraussetzt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen, und ich möchte hinzusetzen, welche sie ihm unmittelbar ver- schaffen. Es fragt sich indess, ob dies der richtige Maassstab sei? Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm dar- stellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfin- dungen jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle folgende wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Dies alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik blos diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe, welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des Hörenden — insofern derselbe nur überhaupt und gleichsam der Gattung nach, in einer verwandten Stimmung ist — wirk- lich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenom- men, als empfunden zu werden. Andre Eigenthümlichkeiten und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da sie aus natürlichen Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als Malerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe ich hier, da es mir nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen, sondern ich sie nur als ein Beispiel brauche, um an ihr die ver- schiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher dar- zustellen. Die eben geschilderte Art zu wirken, ist nun nicht der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/123
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/123>, abgerufen am 05.05.2024.