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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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die Geographen, welche Karten von Amerika entwarfen, so
lange ein Schreckbild war, immerhin etwas Seltenes ist, aber
in beiden Halbkugeln vorkommt.

Wir sind gewöhnt, die europäischen Flüsse nur in dem
Teile ihres Laufes zu betrachten, wo sie zwischen zwei Wasser-
scheiden liegen, somit in Thäler eingeschlossen sind; wir be-
achten nicht, daß die Bodenhindernisse, welche Nebenflüsse und
Hauptwasserbehälter ablenken, gar nicht so oft Bergketten sind,
als vielmehr sanfte Böschungen von Gegenhängen; und so
fällt es uns schwer, uns eine Vorstellung davon zu machen,
wie in der Neuen Welt die Ströme sich so stark krümmen,
sich gabelig teilen und ineinander münden sollen. An diesem
ungeheuren Kontinent fällt die weite Erstreckung und Ein-
förmigkeit seiner Ebenen noch mehr auf als die riesenhafte
Höhe seiner Kordilleren. Erscheinungen, wie wir sie in unserer
Halbkugel an den Meeresküsten oder in den Steppen von
Bactriana um Binnenmeere, um den Aral und das Kaspische
Meer beobachten, kommen in Amerika 1300 bis 1800 km von
den Strommündungen vor. Die kleinen Bäche, die sich durch
unsere Wiesengründe (die vollkommensten Ebenen bei uns)
schlängeln, geben im kleinen ein Bild jener Verzweigungen
und Gabelteilungen; man hält es aber nicht der Mühe wert,
bei solchen Kleinigkeiten zu verweilen, und so fällt einem bei
den hydraulischen Systemen der beiden Welten mehr der
Kontrast auf als die Analogie. Die Vorstellung, der Rhein
könnte an die Donau, die Weichsel an die Oder, die Seine
an die Loire einen Arm abgeben, erscheint uns auf den ersten
Blick so ausschweifend, daß wir, wenn wir auch nicht daran
zweifeln, daß Orinoko und Amazonenstrom in Verbindung
stehen, den Beweis verlangen, daß was wirklich ist, auch
möglich ist.

Fährt man über das Delta des Orinoko nach Angostura
und zum Einflusse des Rio Apure hinauf, so hat man die
hohe Gebirgskette der Parime fortwährend zur Linken. Diese
Kette bildet nun keineswegs, wie mehrere berühmte Geographen
angenommen haben, eine Wasserscheide zwischen dem Becken
des Orinoko und dem des Amazonenstroms, vielmehr ent-
springen am Südabhange derselben die Quellen des ersteren
Stromes. Der Orinoko beschreibt (ganz wie der Arno in der
bekannten Voltata zwischen Bibieno und Ponta Sieve) drei
Vierteile eines Ovals, dessen große Achse in der Richtung
eines Parallels liegt. Er läuft um einen Bergstock herum,

die Geographen, welche Karten von Amerika entwarfen, ſo
lange ein Schreckbild war, immerhin etwas Seltenes iſt, aber
in beiden Halbkugeln vorkommt.

Wir ſind gewöhnt, die europäiſchen Flüſſe nur in dem
Teile ihres Laufes zu betrachten, wo ſie zwiſchen zwei Waſſer-
ſcheiden liegen, ſomit in Thäler eingeſchloſſen ſind; wir be-
achten nicht, daß die Bodenhinderniſſe, welche Nebenflüſſe und
Hauptwaſſerbehälter ablenken, gar nicht ſo oft Bergketten ſind,
als vielmehr ſanfte Böſchungen von Gegenhängen; und ſo
fällt es uns ſchwer, uns eine Vorſtellung davon zu machen,
wie in der Neuen Welt die Ströme ſich ſo ſtark krümmen,
ſich gabelig teilen und ineinander münden ſollen. An dieſem
ungeheuren Kontinent fällt die weite Erſtreckung und Ein-
förmigkeit ſeiner Ebenen noch mehr auf als die rieſenhafte
Höhe ſeiner Kordilleren. Erſcheinungen, wie wir ſie in unſerer
Halbkugel an den Meeresküſten oder in den Steppen von
Bactriana um Binnenmeere, um den Aral und das Kaſpiſche
Meer beobachten, kommen in Amerika 1300 bis 1800 km von
den Strommündungen vor. Die kleinen Bäche, die ſich durch
unſere Wieſengründe (die vollkommenſten Ebenen bei uns)
ſchlängeln, geben im kleinen ein Bild jener Verzweigungen
und Gabelteilungen; man hält es aber nicht der Mühe wert,
bei ſolchen Kleinigkeiten zu verweilen, und ſo fällt einem bei
den hydrauliſchen Syſtemen der beiden Welten mehr der
Kontraſt auf als die Analogie. Die Vorſtellung, der Rhein
könnte an die Donau, die Weichſel an die Oder, die Seine
an die Loire einen Arm abgeben, erſcheint uns auf den erſten
Blick ſo ausſchweifend, daß wir, wenn wir auch nicht daran
zweifeln, daß Orinoko und Amazonenſtrom in Verbindung
ſtehen, den Beweis verlangen, daß was wirklich iſt, auch
möglich iſt.

Fährt man über das Delta des Orinoko nach Angoſtura
und zum Einfluſſe des Rio Apure hinauf, ſo hat man die
hohe Gebirgskette der Parime fortwährend zur Linken. Dieſe
Kette bildet nun keineswegs, wie mehrere berühmte Geographen
angenommen haben, eine Waſſerſcheide zwiſchen dem Becken
des Orinoko und dem des Amazonenſtroms, vielmehr ent-
ſpringen am Südabhange derſelben die Quellen des erſteren
Stromes. Der Orinoko beſchreibt (ganz wie der Arno in der
bekannten Voltata zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve) drei
Vierteile eines Ovals, deſſen große Achſe in der Richtung
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[30/0038] die Geographen, welche Karten von Amerika entwarfen, ſo lange ein Schreckbild war, immerhin etwas Seltenes iſt, aber in beiden Halbkugeln vorkommt. Wir ſind gewöhnt, die europäiſchen Flüſſe nur in dem Teile ihres Laufes zu betrachten, wo ſie zwiſchen zwei Waſſer- ſcheiden liegen, ſomit in Thäler eingeſchloſſen ſind; wir be- achten nicht, daß die Bodenhinderniſſe, welche Nebenflüſſe und Hauptwaſſerbehälter ablenken, gar nicht ſo oft Bergketten ſind, als vielmehr ſanfte Böſchungen von Gegenhängen; und ſo fällt es uns ſchwer, uns eine Vorſtellung davon zu machen, wie in der Neuen Welt die Ströme ſich ſo ſtark krümmen, ſich gabelig teilen und ineinander münden ſollen. An dieſem ungeheuren Kontinent fällt die weite Erſtreckung und Ein- förmigkeit ſeiner Ebenen noch mehr auf als die rieſenhafte Höhe ſeiner Kordilleren. Erſcheinungen, wie wir ſie in unſerer Halbkugel an den Meeresküſten oder in den Steppen von Bactriana um Binnenmeere, um den Aral und das Kaſpiſche Meer beobachten, kommen in Amerika 1300 bis 1800 km von den Strommündungen vor. Die kleinen Bäche, die ſich durch unſere Wieſengründe (die vollkommenſten Ebenen bei uns) ſchlängeln, geben im kleinen ein Bild jener Verzweigungen und Gabelteilungen; man hält es aber nicht der Mühe wert, bei ſolchen Kleinigkeiten zu verweilen, und ſo fällt einem bei den hydrauliſchen Syſtemen der beiden Welten mehr der Kontraſt auf als die Analogie. Die Vorſtellung, der Rhein könnte an die Donau, die Weichſel an die Oder, die Seine an die Loire einen Arm abgeben, erſcheint uns auf den erſten Blick ſo ausſchweifend, daß wir, wenn wir auch nicht daran zweifeln, daß Orinoko und Amazonenſtrom in Verbindung ſtehen, den Beweis verlangen, daß was wirklich iſt, auch möglich iſt. Fährt man über das Delta des Orinoko nach Angoſtura und zum Einfluſſe des Rio Apure hinauf, ſo hat man die hohe Gebirgskette der Parime fortwährend zur Linken. Dieſe Kette bildet nun keineswegs, wie mehrere berühmte Geographen angenommen haben, eine Waſſerſcheide zwiſchen dem Becken des Orinoko und dem des Amazonenſtroms, vielmehr ent- ſpringen am Südabhange derſelben die Quellen des erſteren Stromes. Der Orinoko beſchreibt (ganz wie der Arno in der bekannten Voltata zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve) drei Vierteile eines Ovals, deſſen große Achſe in der Richtung eines Parallels liegt. Er läuft um einen Bergſtock herum,

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/38>, abgerufen am 25.04.2024.