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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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die jungen Häuptlinge, wie die Jünglinge, die heiraten wollen,
fasten und sich den seltsamsten Büßungen unterziehen. Man
purgiert sie mit der Frucht gewisser Euphorbien, man läßt
sie in Kasten schwitzen und gibt ihnen von den Marirri
oder Piaches bereitete Mittel ein, die in den Landstrichen
jenseits der Alleghanies Kriegstränke, Tränke zum
Mutmachen
(war-physics) heißen. Die karibischen Marirri
sind die berühmtesten von allen; sie sind Priester, Gaukler
und Aerzte in einer Person, und ihre Lehre, ihre Kunstgriffe
und ihre Arzneien vererben sich. Letztere werden unter Auf-
legen der Hände gereicht und mit verschiedenen geheimnis-
vollen Gebärden oder Handlungen, wie es scheint, von Uralters
her bekannte Manipulationen des tierischen Magnetismus.
Ich hatte Gelegenheit, mehrere Leute zu sprechen, welche die
verbündeten Kariben genau hatten beobachten können, ich
konnte aber nicht erfahren, ob die Marirri eine Kaste für
sich bilden. In Nordamerika hat man gefunden, daß bei den
Shawanoes, die in mehrere Stämme zerfallen, die Priester,
die die Opfer vornehmen (wie bei den Hebräern), nur aus
einem Stamme, dem der Mequachakes, sein dürfen. Wie
mir dünkt, muß alles, was man noch in Amerika über die
Spuren einer alten Priesterkaste ausfindig macht, von be-
deutendem Interesse sein, wegen jener Priesterkönige in Peru,
die sich Söhne der Sonne nannten, und jener Sonnen-
könige
bei den Natchez, bei denen man unwillkürlich an die
Heliaden der ersten östlichen Kolonie von Rhodus denkt.1 Um
Sitten und Gebräuche des karibischen Volkes vollkommen
kennen zu lernen, müßte man die Missionen in den Llanos,
die am Carony und die Savannen südlich von den Gebirgen
von Pacaraimo zugleich besuchen. Je mehr man sie kennen
lernt, versichern die Franziskaner, desto mehr müssen die Vor-
urteile schwinden, die man gegen sie in Europa hat, wo sie
für wilder, oder um mich des naiven Ausdrucks eines Herrn
von Montmartin zu bedienen, für weit weniger liberal
gelten als andere Völkerschaften in Guyana.2 Die Sprache

uxorum suarum pro non legitimis habent. Uxores ducunt
quotquot placet. Ex uxoribus cariores cum regulo sepeliri
patiuntur. (Anghiera, Decas III, Lib. 9.)
1 Diodorus Siculus, Lib. V, § 56.
2 "Die Kariben sind ziemlich hübsch gewachsen und fleischicht;
sie sind aber nicht sehr liberal, denn sie essen gern Menschenfleisch,

die jungen Häuptlinge, wie die Jünglinge, die heiraten wollen,
faſten und ſich den ſeltſamſten Büßungen unterziehen. Man
purgiert ſie mit der Frucht gewiſſer Euphorbien, man läßt
ſie in Kaſten ſchwitzen und gibt ihnen von den Marirri
oder Piaches bereitete Mittel ein, die in den Landſtrichen
jenſeits der Alleghanies Kriegstränke, Tränke zum
Mutmachen
(war-physics) heißen. Die karibiſchen Marirri
ſind die berühmteſten von allen; ſie ſind Prieſter, Gaukler
und Aerzte in einer Perſon, und ihre Lehre, ihre Kunſtgriffe
und ihre Arzneien vererben ſich. Letztere werden unter Auf-
legen der Hände gereicht und mit verſchiedenen geheimnis-
vollen Gebärden oder Handlungen, wie es ſcheint, von Uralters
her bekannte Manipulationen des tieriſchen Magnetismus.
Ich hatte Gelegenheit, mehrere Leute zu ſprechen, welche die
verbündeten Kariben genau hatten beobachten können, ich
konnte aber nicht erfahren, ob die Marirri eine Kaſte für
ſich bilden. In Nordamerika hat man gefunden, daß bei den
Shawanoes, die in mehrere Stämme zerfallen, die Prieſter,
die die Opfer vornehmen (wie bei den Hebräern), nur aus
einem Stamme, dem der Mequachakes, ſein dürfen. Wie
mir dünkt, muß alles, was man noch in Amerika über die
Spuren einer alten Prieſterkaſte ausfindig macht, von be-
deutendem Intereſſe ſein, wegen jener Prieſterkönige in Peru,
die ſich Söhne der Sonne nannten, und jener Sonnen-
könige
bei den Natchez, bei denen man unwillkürlich an die
Heliaden der erſten öſtlichen Kolonie von Rhodus denkt.1 Um
Sitten und Gebräuche des karibiſchen Volkes vollkommen
kennen zu lernen, müßte man die Miſſionen in den Llanos,
die am Carony und die Savannen ſüdlich von den Gebirgen
von Pacaraimo zugleich beſuchen. Je mehr man ſie kennen
lernt, verſichern die Franziskaner, deſto mehr müſſen die Vor-
urteile ſchwinden, die man gegen ſie in Europa hat, wo ſie
für wilder, oder um mich des naiven Ausdrucks eines Herrn
von Montmartin zu bedienen, für weit weniger liberal
gelten als andere Völkerſchaften in Guyana.2 Die Sprache

uxorum suarum pro non legitimis habent. Uxores ducunt
quotquot placet. Ex uxoribus cariores cum regulo sepeliri
patiuntur. (Anghiera, Decas III, Lib. 9.)
1 Diodorus Siculus, Lib. V, § 56.
2 „Die Kariben ſind ziemlich hübſch gewachſen und fleiſchicht;
ſie ſind aber nicht ſehr liberal, denn ſie eſſen gern Menſchenfleiſch,
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[248/0256] die jungen Häuptlinge, wie die Jünglinge, die heiraten wollen, faſten und ſich den ſeltſamſten Büßungen unterziehen. Man purgiert ſie mit der Frucht gewiſſer Euphorbien, man läßt ſie in Kaſten ſchwitzen und gibt ihnen von den Marirri oder Piaches bereitete Mittel ein, die in den Landſtrichen jenſeits der Alleghanies Kriegstränke, Tränke zum Mutmachen (war-physics) heißen. Die karibiſchen Marirri ſind die berühmteſten von allen; ſie ſind Prieſter, Gaukler und Aerzte in einer Perſon, und ihre Lehre, ihre Kunſtgriffe und ihre Arzneien vererben ſich. Letztere werden unter Auf- legen der Hände gereicht und mit verſchiedenen geheimnis- vollen Gebärden oder Handlungen, wie es ſcheint, von Uralters her bekannte Manipulationen des tieriſchen Magnetismus. Ich hatte Gelegenheit, mehrere Leute zu ſprechen, welche die verbündeten Kariben genau hatten beobachten können, ich konnte aber nicht erfahren, ob die Marirri eine Kaſte für ſich bilden. In Nordamerika hat man gefunden, daß bei den Shawanoes, die in mehrere Stämme zerfallen, die Prieſter, die die Opfer vornehmen (wie bei den Hebräern), nur aus einem Stamme, dem der Mequachakes, ſein dürfen. Wie mir dünkt, muß alles, was man noch in Amerika über die Spuren einer alten Prieſterkaſte ausfindig macht, von be- deutendem Intereſſe ſein, wegen jener Prieſterkönige in Peru, die ſich Söhne der Sonne nannten, und jener Sonnen- könige bei den Natchez, bei denen man unwillkürlich an die Heliaden der erſten öſtlichen Kolonie von Rhodus denkt. 1 Um Sitten und Gebräuche des karibiſchen Volkes vollkommen kennen zu lernen, müßte man die Miſſionen in den Llanos, die am Carony und die Savannen ſüdlich von den Gebirgen von Pacaraimo zugleich beſuchen. Je mehr man ſie kennen lernt, verſichern die Franziskaner, deſto mehr müſſen die Vor- urteile ſchwinden, die man gegen ſie in Europa hat, wo ſie für wilder, oder um mich des naiven Ausdrucks eines Herrn von Montmartin zu bedienen, für weit weniger liberal gelten als andere Völkerſchaften in Guyana. 2 Die Sprache 1 1 Diodorus Siculus, Lib. V, § 56. 2 „Die Kariben ſind ziemlich hübſch gewachſen und fleiſchicht; ſie ſind aber nicht ſehr liberal, denn ſie eſſen gern Menſchenfleiſch, 1 uxorum suarum pro non legitimis habent. Uxores ducunt quotquot placet. Ex uxoribus cariores cum regulo sepeliri patiuntur. (Anghiera, Decas III, Lib. 9.)

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/256>, abgerufen am 22.11.2024.