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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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die Mauritia ist keineswegs eine "Küstenpalme", wie Chamae-
rops humilis,
wie der gemeine Kokosbaum und Commersons
Lodoicea, sondern geht, als "Sumpfpalme", bis zu den
Quellen des Orinoko hinauf. Während der Ueberschwem-
mungen nehmen sich diese Mauritiabüsche wie ein Wald aus,
der aus dem Wasser taucht. Der Schiffer, wenn er bei Nacht
durch die Kanale des Orinokodeltas fährt, sieht mit Ueber-
raschung die Wipfel der Palmen von großen Feuern beleuchtet.
Dies sind die an den Baumästen aufgehängten Wohnungen
der Guaraunen (Raleghs Tivitiva und Uaraueti). Diese
Völkerschaften spannen Matten in der Luft aus, füllen sie
mit Erde und machen auf einer befeuchteten Thonschicht ihr
Haushaltungsfeuer an. Seit Jahrhunderten verdanken sie
ihre Freiheit und politische Unabhängigkeit dem unfesten,
schlammigen Boden, auf dem sie in der trockenen Jahreszeit
umherziehen und auf dem nur sie sicher gehen können, ihrer
Abgeschiedenheit auf dem Delta des Orinoko, ihrem Leben
auf den Bäumen, wohin religiöse Schwärmerei schwerlich je
amerikanische Styliten 1 treibt.

Ich habe schon anderswo bemerkt, daß die Mauritiapalme,
der "Lebensbaum" der Missionäre, den Guaraunen nicht nur beim
Hochwasser des Orinoko eine sichere Behausung bietet, sondern
ihnen in seinen schuppigen Früchten, in seinem mehligen Staube,
in seinem zuckerreichen Safte, endlich in den Fasern seiner Blatt-
stiele Nahrungsmittel, Wein und Schnüre zu Stricken und Hänge-
matten gibt. Gleiche Gebräuche wie bei den Indianern auf
dem Delta des Orinoko herrschten früher im Meerbusen von
Darien (Uraba) und auf den meisten zeitweise unter Wasser
stehenden Landstrichen zwischen dem Guarapiche und der Mün-
dung des Amazonenstromes. Es ist sehr merkwürdig, auf der
niedrigsten Stufe menschlicher Kultur das Leben einer ganzen
Völkerschaft an eine einzige Palmenart gekettet zu sehen, In-
sekten gleich, die sich nur von einer Blüte, vom selben Teile
eines Gewächses nähren.

Es ist nicht zu verwundern, daß die Breite der Haupt-

1 Simeon Sisanites, ein Syrier, war der Stifter dieser Sekte.
Er brachte in mystischer Beschaulichkeit 37 Jahre auf 5 Säulen zu,
von denen die letzte 36 m hoch war. Die Säulenheiligen,
sancti columnares, wollten auch in Deutschland, im Trierschen,
ihre luftigen Klöster einführen, aber die Bischöfe widersetzten sich
einem so tollen, halsbrechenden Unternehmen.

die Mauritia iſt keineswegs eine „Küſtenpalme“, wie Chamae-
rops humilis,
wie der gemeine Kokosbaum und Commerſons
Lodoicea, ſondern geht, als „Sumpfpalme“, bis zu den
Quellen des Orinoko hinauf. Während der Ueberſchwem-
mungen nehmen ſich dieſe Mauritiabüſche wie ein Wald aus,
der aus dem Waſſer taucht. Der Schiffer, wenn er bei Nacht
durch die Kanale des Orinokodeltas fährt, ſieht mit Ueber-
raſchung die Wipfel der Palmen von großen Feuern beleuchtet.
Dies ſind die an den Baumäſten aufgehängten Wohnungen
der Guaraunen (Raleghs Tivitiva und Uaraueti). Dieſe
Völkerſchaften ſpannen Matten in der Luft aus, füllen ſie
mit Erde und machen auf einer befeuchteten Thonſchicht ihr
Haushaltungsfeuer an. Seit Jahrhunderten verdanken ſie
ihre Freiheit und politiſche Unabhängigkeit dem unfeſten,
ſchlammigen Boden, auf dem ſie in der trockenen Jahreszeit
umherziehen und auf dem nur ſie ſicher gehen können, ihrer
Abgeſchiedenheit auf dem Delta des Orinoko, ihrem Leben
auf den Bäumen, wohin religiöſe Schwärmerei ſchwerlich je
amerikaniſche Styliten 1 treibt.

Ich habe ſchon anderswo bemerkt, daß die Mauritiapalme,
der „Lebensbaum“ der Miſſionäre, den Guaraunen nicht nur beim
Hochwaſſer des Orinoko eine ſichere Behauſung bietet, ſondern
ihnen in ſeinen ſchuppigen Früchten, in ſeinem mehligen Staube,
in ſeinem zuckerreichen Safte, endlich in den Faſern ſeiner Blatt-
ſtiele Nahrungsmittel, Wein und Schnüre zu Stricken und Hänge-
matten gibt. Gleiche Gebräuche wie bei den Indianern auf
dem Delta des Orinoko herrſchten früher im Meerbuſen von
Darien (Uraba) und auf den meiſten zeitweiſe unter Waſſer
ſtehenden Landſtrichen zwiſchen dem Guarapiche und der Mün-
dung des Amazonenſtromes. Es iſt ſehr merkwürdig, auf der
niedrigſten Stufe menſchlicher Kultur das Leben einer ganzen
Völkerſchaft an eine einzige Palmenart gekettet zu ſehen, In-
ſekten gleich, die ſich nur von einer Blüte, vom ſelben Teile
eines Gewächſes nähren.

Es iſt nicht zu verwundern, daß die Breite der Haupt-

1 Simeon Siſanites, ein Syrier, war der Stifter dieſer Sekte.
Er brachte in myſtiſcher Beſchaulichkeit 37 Jahre auf 5 Säulen zu,
von denen die letzte 36 m hoch war. Die Säulenheiligen,
sancti columnares, wollten auch in Deutſchland, im Trierſchen,
ihre luftigen Klöſter einführen, aber die Biſchöfe widerſetzten ſich
einem ſo tollen, halsbrechenden Unternehmen.
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[166/0174] die Mauritia iſt keineswegs eine „Küſtenpalme“, wie Chamae- rops humilis, wie der gemeine Kokosbaum und Commerſons Lodoicea, ſondern geht, als „Sumpfpalme“, bis zu den Quellen des Orinoko hinauf. Während der Ueberſchwem- mungen nehmen ſich dieſe Mauritiabüſche wie ein Wald aus, der aus dem Waſſer taucht. Der Schiffer, wenn er bei Nacht durch die Kanale des Orinokodeltas fährt, ſieht mit Ueber- raſchung die Wipfel der Palmen von großen Feuern beleuchtet. Dies ſind die an den Baumäſten aufgehängten Wohnungen der Guaraunen (Raleghs Tivitiva und Uaraueti). Dieſe Völkerſchaften ſpannen Matten in der Luft aus, füllen ſie mit Erde und machen auf einer befeuchteten Thonſchicht ihr Haushaltungsfeuer an. Seit Jahrhunderten verdanken ſie ihre Freiheit und politiſche Unabhängigkeit dem unfeſten, ſchlammigen Boden, auf dem ſie in der trockenen Jahreszeit umherziehen und auf dem nur ſie ſicher gehen können, ihrer Abgeſchiedenheit auf dem Delta des Orinoko, ihrem Leben auf den Bäumen, wohin religiöſe Schwärmerei ſchwerlich je amerikaniſche Styliten 1 treibt. Ich habe ſchon anderswo bemerkt, daß die Mauritiapalme, der „Lebensbaum“ der Miſſionäre, den Guaraunen nicht nur beim Hochwaſſer des Orinoko eine ſichere Behauſung bietet, ſondern ihnen in ſeinen ſchuppigen Früchten, in ſeinem mehligen Staube, in ſeinem zuckerreichen Safte, endlich in den Faſern ſeiner Blatt- ſtiele Nahrungsmittel, Wein und Schnüre zu Stricken und Hänge- matten gibt. Gleiche Gebräuche wie bei den Indianern auf dem Delta des Orinoko herrſchten früher im Meerbuſen von Darien (Uraba) und auf den meiſten zeitweiſe unter Waſſer ſtehenden Landſtrichen zwiſchen dem Guarapiche und der Mün- dung des Amazonenſtromes. Es iſt ſehr merkwürdig, auf der niedrigſten Stufe menſchlicher Kultur das Leben einer ganzen Völkerſchaft an eine einzige Palmenart gekettet zu ſehen, In- ſekten gleich, die ſich nur von einer Blüte, vom ſelben Teile eines Gewächſes nähren. Es iſt nicht zu verwundern, daß die Breite der Haupt- 1 Simeon Siſanites, ein Syrier, war der Stifter dieſer Sekte. Er brachte in myſtiſcher Beſchaulichkeit 37 Jahre auf 5 Säulen zu, von denen die letzte 36 m hoch war. Die Säulenheiligen, sancti columnares, wollten auch in Deutſchland, im Trierſchen, ihre luftigen Klöſter einführen, aber die Biſchöfe widerſetzten ſich einem ſo tollen, halsbrechenden Unternehmen.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/174>, abgerufen am 25.11.2024.