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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Diese Früchte wurden roh gegessen, sogar unreif, und da das
Volk dem Genuß geistiger Getränke übermäßig ergeben war,
so nahm infolge dieser unordentlichen Lebensweise die Volks-
zahl Jahr um Jahr ab. In den Archiven von Caracas liegen
eine Menge Schriften, die davon handeln, daß die jeweilige
Hauptstadt von Guyana notwendig verlegt werden müsse.
Nach den mir mitgeteilten Aktenstücken schlug man bald vor,
wieder in die Fortaleza, das heißt nach Vieja Guyana
zu ziehen, bald die Hauptstadt ganz nahe an der großen Mün-
dung des Orinoko (45 km westwärts vom Kap Barima, am
Einfluß des Rio Acquire) anzulegen, bald sie 112 km unter-
halb Angostura auf die Savanne zu stellen, auf der das Dorf
San Miguel liegt. Es war allerdings eine engherzige Politik,
wenn die Regierung glaubte, "zur besseren Verteidigung der
Provinz den Hauptort in der ungeheuren Entfernung von
382 km von der See anlegen zu müssen und auf dieser
Strecke keine Stadt erbauen zu dürfen, die den Einfällen des
Feindes bloßgestellt wäre". Zu dem Umstand, daß europäische
Fahrzeuge den Orinoko sehr schwer bis Angostura hinauf-
kommen (weit schwerer als auf dem Potomac bis Washington),
kommt noch der andere für die Agrikulturindustrie sehr nach-
teilige, daß der Mittelpunkt des Handels oberhalb der Stelle
liegt, wo die Ufer des Stromes den Fleiß des Kolonisten am
meisten lohnen. Es ist nicht einmal richtig, daß die Stadt
Angostura oder Santo Tome de la Nueva Guyana da an-
gelegt worden, wo im Jahr 1764 das bebaute Land anfing;
damals wie jetzt war die Hauptmasse der Bevölkerung von
Guyana in den Missionen der katalonischen Kapuziner zwischen
den Flüssen Carony und Cuyuni. Nun ist aber dieses Ge-
biet, das wichtigste in der ganzen Provinz, wo sich der Feind
Hilfsmittel aller Art verschaffen kann, eben durch Vieja
Guyana
geschützt -- oder man nimmt dies doch an -- in
keiner Weise aber durch die Werke der neuen Stadt Angostura.

Die in Vorschlag gebrachte Stelle bei San Miguel liegt
ein Stück ostwärts vom Einfluß des Carony, also zwischen der
See und dem bevölkertsten Landstriche. Legt man den Haupt-
ort der Provinz noch weiter unten, ganz nahe am Ausfluß
des Orinoko an, wie de Pons will, so hat man weniger von
der Nähe der Kariben zu besorgen, die man sich leicht vom
Leibe hielte, als vom Umstand, daß der Feind über die kleinen
westlichen Mündungen des Orinoko, die Cannos Macareo und
Manamo, den Platz umgehen und in das Innere der Provinz

Dieſe Früchte wurden roh gegeſſen, ſogar unreif, und da das
Volk dem Genuß geiſtiger Getränke übermäßig ergeben war,
ſo nahm infolge dieſer unordentlichen Lebensweiſe die Volks-
zahl Jahr um Jahr ab. In den Archiven von Caracas liegen
eine Menge Schriften, die davon handeln, daß die jeweilige
Hauptſtadt von Guyana notwendig verlegt werden müſſe.
Nach den mir mitgeteilten Aktenſtücken ſchlug man bald vor,
wieder in die Fortaleza, das heißt nach Vieja Guyana
zu ziehen, bald die Hauptſtadt ganz nahe an der großen Mün-
dung des Orinoko (45 km weſtwärts vom Kap Barima, am
Einfluß des Rio Acquire) anzulegen, bald ſie 112 km unter-
halb Angoſtura auf die Savanne zu ſtellen, auf der das Dorf
San Miguel liegt. Es war allerdings eine engherzige Politik,
wenn die Regierung glaubte, „zur beſſeren Verteidigung der
Provinz den Hauptort in der ungeheuren Entfernung von
382 km von der See anlegen zu müſſen und auf dieſer
Strecke keine Stadt erbauen zu dürfen, die den Einfällen des
Feindes bloßgeſtellt wäre“. Zu dem Umſtand, daß europäiſche
Fahrzeuge den Orinoko ſehr ſchwer bis Angoſtura hinauf-
kommen (weit ſchwerer als auf dem Potomac bis Waſhington),
kommt noch der andere für die Agrikulturinduſtrie ſehr nach-
teilige, daß der Mittelpunkt des Handels oberhalb der Stelle
liegt, wo die Ufer des Stromes den Fleiß des Koloniſten am
meiſten lohnen. Es iſt nicht einmal richtig, daß die Stadt
Angoſtura oder Santo Tome de la Nueva Guyana da an-
gelegt worden, wo im Jahr 1764 das bebaute Land anfing;
damals wie jetzt war die Hauptmaſſe der Bevölkerung von
Guyana in den Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner zwiſchen
den Flüſſen Carony und Cuyuni. Nun iſt aber dieſes Ge-
biet, das wichtigſte in der ganzen Provinz, wo ſich der Feind
Hilfsmittel aller Art verſchaffen kann, eben durch Vieja
Guyana
geſchützt — oder man nimmt dies doch an — in
keiner Weiſe aber durch die Werke der neuen Stadt Angoſtura.

Die in Vorſchlag gebrachte Stelle bei San Miguel liegt
ein Stück oſtwärts vom Einfluß des Carony, alſo zwiſchen der
See und dem bevölkertſten Landſtriche. Legt man den Haupt-
ort der Provinz noch weiter unten, ganz nahe am Ausfluß
des Orinoko an, wie de Pons will, ſo hat man weniger von
der Nähe der Kariben zu beſorgen, die man ſich leicht vom
Leibe hielte, als vom Umſtand, daß der Feind über die kleinen
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[157/0165] Dieſe Früchte wurden roh gegeſſen, ſogar unreif, und da das Volk dem Genuß geiſtiger Getränke übermäßig ergeben war, ſo nahm infolge dieſer unordentlichen Lebensweiſe die Volks- zahl Jahr um Jahr ab. In den Archiven von Caracas liegen eine Menge Schriften, die davon handeln, daß die jeweilige Hauptſtadt von Guyana notwendig verlegt werden müſſe. Nach den mir mitgeteilten Aktenſtücken ſchlug man bald vor, wieder in die Fortaleza, das heißt nach Vieja Guyana zu ziehen, bald die Hauptſtadt ganz nahe an der großen Mün- dung des Orinoko (45 km weſtwärts vom Kap Barima, am Einfluß des Rio Acquire) anzulegen, bald ſie 112 km unter- halb Angoſtura auf die Savanne zu ſtellen, auf der das Dorf San Miguel liegt. Es war allerdings eine engherzige Politik, wenn die Regierung glaubte, „zur beſſeren Verteidigung der Provinz den Hauptort in der ungeheuren Entfernung von 382 km von der See anlegen zu müſſen und auf dieſer Strecke keine Stadt erbauen zu dürfen, die den Einfällen des Feindes bloßgeſtellt wäre“. Zu dem Umſtand, daß europäiſche Fahrzeuge den Orinoko ſehr ſchwer bis Angoſtura hinauf- kommen (weit ſchwerer als auf dem Potomac bis Waſhington), kommt noch der andere für die Agrikulturinduſtrie ſehr nach- teilige, daß der Mittelpunkt des Handels oberhalb der Stelle liegt, wo die Ufer des Stromes den Fleiß des Koloniſten am meiſten lohnen. Es iſt nicht einmal richtig, daß die Stadt Angoſtura oder Santo Tome de la Nueva Guyana da an- gelegt worden, wo im Jahr 1764 das bebaute Land anfing; damals wie jetzt war die Hauptmaſſe der Bevölkerung von Guyana in den Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner zwiſchen den Flüſſen Carony und Cuyuni. Nun iſt aber dieſes Ge- biet, das wichtigſte in der ganzen Provinz, wo ſich der Feind Hilfsmittel aller Art verſchaffen kann, eben durch Vieja Guyana geſchützt — oder man nimmt dies doch an — in keiner Weiſe aber durch die Werke der neuen Stadt Angoſtura. Die in Vorſchlag gebrachte Stelle bei San Miguel liegt ein Stück oſtwärts vom Einfluß des Carony, alſo zwiſchen der See und dem bevölkertſten Landſtriche. Legt man den Haupt- ort der Provinz noch weiter unten, ganz nahe am Ausfluß des Orinoko an, wie de Pons will, ſo hat man weniger von der Nähe der Kariben zu beſorgen, die man ſich leicht vom Leibe hielte, als vom Umſtand, daß der Feind über die kleinen weſtlichen Mündungen des Orinoko, die Caños Macareo und Manamo, den Platz umgehen und in das Innere der Provinz

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/165>, abgerufen am 03.05.2024.