Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Horeda und dem Paruasi mit dem üppigsten Pflan-
zenwuchse bedeckt ist, konnte er der Lust nicht widerstehen,
große botanische Exkursionen zu machen, und wurde den Tag
über mehrere Male durchnäßt. Im Hause des Missionärs
wurde für alle unsere Bedürfnisse zuvorkommend gesorgt; man
verschaffte uns Maismehl, sogar Milch. Die Kühe geben in
den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es
fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne
dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältnisse im Indi-
schen Archipelagus das Vorurteil verbreitet ist, als ob ein
heißes Klima auf die Milchabsonderung ungünstig wirkte. Es
begreift sich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents sich aus
der Milch nicht viel machen, da das Land ursprünglich keine
Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man sich,
daß die ungeheure chinesische Bevölkerung, die doch großen-
teils außerhalb der Tropen unter denselben Breiten wie die
nomadischen Stämme in Centralasien lebt, ebenso gleichgültig
ist. Wenn die Chinesen einmal ein Hirtenvolk waren, wie
geht es zu, daß sie Sitten und einem Geschmack, die ihrem
früheren Zustande so ganz angemessen sind, ungetreu gewor-
den? Diese Fragen scheinen mir von großer Bedeutung so-
wohl für die Geschichte der Völker von Ostasien als hinsicht-
lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwischen
diesem Weltteil und dem nördlichen Mexiko stattgefunden
haben können.

Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana
zur Mission Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den
vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten
öfters an, um die Geschwindigkeit des Stromes und seine
Temperatur an der Oberfläche zu messen. Letztere betrug
27° 4', die Geschwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m
in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des
Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war.
Der Fall des Flusses ist allerdings von den Katarakten bis
Angostura höchst unbedeutend,1 und ohne barometrische Mes-
sung ließe sich der Höhenunterschied ungefähr schätzen, wenn
man von Zeit zu Zeit die Geschwindigkeit und Breite und
Tiefe des Stromstückes mäße. In Uruana konnten wir einige
Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Mission

1 Der Nil hat von Kairo bis Rosette auf einer Strecke von
265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.

dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan-
zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen,
große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag
über mehrere Male durchnäßt. Im Hauſe des Miſſionärs
wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man
verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in
den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es
fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne
dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi-
ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein
heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es
begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus
der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine
Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich,
daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen-
teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die
nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig
iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie
geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem
früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor-
den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo-
wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht-
lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen
dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden
haben können.

Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana
zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den
vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten
öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine
Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug
27° 4′, die Geſchwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m
in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des
Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war.
Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis
Angoſtura höchſt unbedeutend,1 und ohne barometriſche Meſ-
ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn
man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und
Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige
Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion

1 Der Nil hat von Kairo bis Roſette auf einer Strecke von
265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0129" n="121"/>
dem Horeda und dem Parua&#x017F;i mit dem üppig&#x017F;ten Pflan-<lb/>
zenwuch&#x017F;e bedeckt i&#x017F;t, konnte er der Lu&#x017F;t nicht wider&#x017F;tehen,<lb/>
große botani&#x017F;che Exkur&#x017F;ionen zu machen, und wurde den Tag<lb/>
über mehrere Male durchnäßt. Im Hau&#x017F;e des Mi&#x017F;&#x017F;ionärs<lb/>
wurde für alle un&#x017F;ere Bedürfni&#x017F;&#x017F;e zuvorkommend ge&#x017F;orgt; man<lb/>
ver&#x017F;chaffte uns Maismehl, &#x017F;ogar Milch. Die Kühe geben in<lb/>
den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es<lb/>
fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne<lb/>
dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältni&#x017F;&#x017F;e im Indi-<lb/>
&#x017F;chen Archipelagus das Vorurteil verbreitet i&#x017F;t, als ob ein<lb/>
heißes Klima auf die Milchab&#x017F;onderung ungün&#x017F;tig wirkte. Es<lb/>
begreift &#x017F;ich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents &#x017F;ich aus<lb/>
der Milch nicht viel machen, da das Land ur&#x017F;prünglich keine<lb/>
Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man &#x017F;ich,<lb/>
daß die ungeheure chine&#x017F;i&#x017F;che Bevölkerung, die doch großen-<lb/>
teils außerhalb der Tropen unter den&#x017F;elben Breiten wie die<lb/>
nomadi&#x017F;chen Stämme in Centrala&#x017F;ien lebt, eben&#x017F;o gleichgültig<lb/>
i&#x017F;t. Wenn die Chine&#x017F;en einmal ein Hirtenvolk waren, wie<lb/>
geht es zu, daß &#x017F;ie Sitten und einem Ge&#x017F;chmack, die ihrem<lb/>
früheren Zu&#x017F;tande &#x017F;o ganz angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind, ungetreu gewor-<lb/>
den? Die&#x017F;e Fragen &#x017F;cheinen mir von großer Bedeutung &#x017F;o-<lb/>
wohl für die Ge&#x017F;chichte der Völker von O&#x017F;ta&#x017F;ien als hin&#x017F;icht-<lb/>
lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwi&#x017F;chen<lb/>
die&#x017F;em Weltteil und dem nördlichen Mexiko &#x017F;tattgefunden<lb/>
haben können.</p><lb/>
          <p>Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana<lb/>
zur Mi&#x017F;&#x017F;ion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den<lb/>
vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten<lb/>
öfters an, um die Ge&#x017F;chwindigkeit des Stromes und &#x017F;eine<lb/>
Temperatur an der Oberfläche zu me&#x017F;&#x017F;en. Letztere betrug<lb/>
27° 4&#x2032;, die Ge&#x017F;chwindigkeit 65 <hi rendition="#aq">cm</hi> in der Sekunde (102,8 <hi rendition="#aq">m</hi><lb/>
in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des<lb/>
Orinoko über 3900 <hi rendition="#aq">m</hi> breit und 19,5 bis 23 <hi rendition="#aq">m</hi> tief war.<lb/>
Der Fall des Flu&#x017F;&#x017F;es i&#x017F;t allerdings von den Katarakten bis<lb/>
Ango&#x017F;tura höch&#x017F;t unbedeutend,<note place="foot" n="1">Der Nil hat von Kairo bis Ro&#x017F;ette auf einer Strecke von<lb/>
265 <hi rendition="#aq">km</hi> nur 2,2 <hi rendition="#aq">m</hi> Fall auf den Kilometer.</note> und ohne barometri&#x017F;che Me&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung ließe &#x017F;ich der Höhenunter&#x017F;chied ungefähr &#x017F;chätzen, wenn<lb/>
man von Zeit zu Zeit die Ge&#x017F;chwindigkeit und Breite und<lb/>
Tiefe des Strom&#x017F;tückes mäße. In Uruana konnten wir einige<lb/>
Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Mi&#x017F;&#x017F;ion<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0129] dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan- zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen, große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag über mehrere Male durchnäßt. Im Hauſe des Miſſionärs wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi- ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich, daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen- teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor- den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo- wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht- lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden haben können. Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug 27° 4′, die Geſchwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war. Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis Angoſtura höchſt unbedeutend, 1 und ohne barometriſche Meſ- ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion 1 Der Nil hat von Kairo bis Roſette auf einer Strecke von 265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/129
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/129>, abgerufen am 25.11.2024.