gleich 7° 8', da aber die verschiedenen Sterne abweichende Re- sultate gaben, blieb sie um mehr als eine Minute unsicher. Die Moskitoschicht am Boden war so dicht, daß ich mit dem Richten des künstlichen Horizontes nicht fertig werden konnte, und ich bedauerte, nicht mit einem Quecksilberhorizont versehen zu sein. Am 7. Juni erhielt ich durch gute absolute Sonnen- höhen eine Länge von 69° 40'. Seit Esmeralda waren wir um 1° 17' gegen West vorgerückt, und diese chrono- metrische Bestimmung verdient volles Zutrauen, weil wir auf dem Hin- und dem Herweg, in den großen Kata- rakten und an den Mündungen des Atabapo und des Apure beobachtet hatten.
Die Mission Uruana ist ungemein malerisch gelegen; das kleine indianische Dorf lehnt sich an einen hohen Granit- berg. Ueberall steigen Felsen wie Pfeiler über dem Walde auf und ragen über die höchsten Baumwipfel empor. Nir- gends nimmt sich der Orinoko majestätischer aus als bei der Hütte des Missionärs Fray Ramon Bueno. Er ist hier über 5067 m breit und läuft gerade gegen Ost, ohne Krümmung, wie ein ungeheurer Kanal. Durch zwei lange, schmale Inseln (Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) wird das Flußbett noch ausgedehnter; indessen laufen die Ufer parallel und man kann nicht sagen, der Orinoko teile sich in mehrere Arme.
Die Mission ist von Otomaken bewohnt, einem versun- kenen Stamme, an dem man eine der merkwürdigsten physio- logischen Erscheinungen beobachtet. Die Otomaken essen Erde, das heißt, sie verschlingen sie mehrere Monate lang täglich in ziemlich bedeutender Menge, um den Hunger zu beschwichtigen, ohne daß ihre Gesundheit dabei leidet. Diese unzweifelhafte Thatsache hat seit meiner Rückkehr nach Europa lebhaften Widerspruch gefunden, weil man zwei ganz verschiedene Sätze: Erde essen, und sich von Erde nähren, zusammenwarf. Wir konnten uns zwar nur einen einzigen Tag in Uruana aufhalten, aber dies reichte hin, um die Bereitung der Poya (der Erdkugeln) kennen zu lernen, die Vorräte, welche die Eingeborenen davon angelegt, zu untersuchen und die Quan- tität Erde, die sie in 24 Stunden verschlingen, zu bestimmen. Uebrigens sind die Otomaken nicht das einzige Volk am Ori- noko, bei dem Thon als Nahrungsmittel gilt. Auch bei den Guamos findet man Spuren von dieser Verirrung des Nah- rungstriebes, und zwischen den Einflüssen des Meta und des
gleich 7° 8′, da aber die verſchiedenen Sterne abweichende Re- ſultate gaben, blieb ſie um mehr als eine Minute unſicher. Die Moskitoſchicht am Boden war ſo dicht, daß ich mit dem Richten des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden konnte, und ich bedauerte, nicht mit einem Queckſilberhorizont verſehen zu ſein. Am 7. Juni erhielt ich durch gute abſolute Sonnen- höhen eine Länge von 69° 40′. Seit Esmeralda waren wir um 1° 17′ gegen Weſt vorgerückt, und dieſe chrono- metriſche Beſtimmung verdient volles Zutrauen, weil wir auf dem Hin- und dem Herweg, in den großen Kata- rakten und an den Mündungen des Atabapo und des Apure beobachtet hatten.
Die Miſſion Uruana iſt ungemein maleriſch gelegen; das kleine indianiſche Dorf lehnt ſich an einen hohen Granit- berg. Ueberall ſteigen Felſen wie Pfeiler über dem Walde auf und ragen über die höchſten Baumwipfel empor. Nir- gends nimmt ſich der Orinoko majeſtätiſcher aus als bei der Hütte des Miſſionärs Fray Ramon Bueno. Er iſt hier über 5067 m breit und läuft gerade gegen Oſt, ohne Krümmung, wie ein ungeheurer Kanal. Durch zwei lange, ſchmale Inſeln (Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) wird das Flußbett noch ausgedehnter; indeſſen laufen die Ufer parallel und man kann nicht ſagen, der Orinoko teile ſich in mehrere Arme.
Die Miſſion iſt von Otomaken bewohnt, einem verſun- kenen Stamme, an dem man eine der merkwürdigſten phyſio- logiſchen Erſcheinungen beobachtet. Die Otomaken eſſen Erde, das heißt, ſie verſchlingen ſie mehrere Monate lang täglich in ziemlich bedeutender Menge, um den Hunger zu beſchwichtigen, ohne daß ihre Geſundheit dabei leidet. Dieſe unzweifelhafte Thatſache hat ſeit meiner Rückkehr nach Europa lebhaften Widerſpruch gefunden, weil man zwei ganz verſchiedene Sätze: Erde eſſen, und ſich von Erde nähren, zuſammenwarf. Wir konnten uns zwar nur einen einzigen Tag in Uruana aufhalten, aber dies reichte hin, um die Bereitung der Poya (der Erdkugeln) kennen zu lernen, die Vorräte, welche die Eingeborenen davon angelegt, zu unterſuchen und die Quan- tität Erde, die ſie in 24 Stunden verſchlingen, zu beſtimmen. Uebrigens ſind die Otomaken nicht das einzige Volk am Ori- noko, bei dem Thon als Nahrungsmittel gilt. Auch bei den Guamos findet man Spuren von dieſer Verirrung des Nah- rungstriebes, und zwiſchen den Einflüſſen des Meta und des
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gleich 7° 8′, da aber die verſchiedenen Sterne abweichende Re-
ſultate gaben, blieb ſie um mehr als eine Minute unſicher.
Die Moskitoſchicht am Boden war ſo dicht, daß ich mit dem
Richten des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden konnte,
und ich bedauerte, nicht mit einem Queckſilberhorizont verſehen
zu ſein. Am 7. Juni erhielt ich durch gute abſolute Sonnen-
höhen eine Länge von 69° 40′. Seit Esmeralda waren
wir um 1° 17′ gegen Weſt vorgerückt, und dieſe chrono-
metriſche Beſtimmung verdient volles Zutrauen, weil wir
auf dem Hin- und dem Herweg, in den großen Kata-
rakten und an den Mündungen des Atabapo und des Apure
beobachtet hatten.
Die Miſſion Uruana iſt ungemein maleriſch gelegen;
das kleine indianiſche Dorf lehnt ſich an einen hohen Granit-
berg. Ueberall ſteigen Felſen wie Pfeiler über dem Walde
auf und ragen über die höchſten Baumwipfel empor. Nir-
gends nimmt ſich der Orinoko majeſtätiſcher aus als bei der
Hütte des Miſſionärs Fray Ramon Bueno. Er iſt hier über
5067 m breit und läuft gerade gegen Oſt, ohne Krümmung,
wie ein ungeheurer Kanal. Durch zwei lange, ſchmale Inſeln
(Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) wird das
Flußbett noch ausgedehnter; indeſſen laufen die Ufer parallel
und man kann nicht ſagen, der Orinoko teile ſich in mehrere
Arme.
Die Miſſion iſt von Otomaken bewohnt, einem verſun-
kenen Stamme, an dem man eine der merkwürdigſten phyſio-
logiſchen Erſcheinungen beobachtet. Die Otomaken eſſen Erde,
das heißt, ſie verſchlingen ſie mehrere Monate lang täglich in
ziemlich bedeutender Menge, um den Hunger zu beſchwichtigen,
ohne daß ihre Geſundheit dabei leidet. Dieſe unzweifelhafte
Thatſache hat ſeit meiner Rückkehr nach Europa lebhaften
Widerſpruch gefunden, weil man zwei ganz verſchiedene Sätze:
Erde eſſen, und ſich von Erde nähren, zuſammenwarf.
Wir konnten uns zwar nur einen einzigen Tag in Uruana
aufhalten, aber dies reichte hin, um die Bereitung der Poya
(der Erdkugeln) kennen zu lernen, die Vorräte, welche die
Eingeborenen davon angelegt, zu unterſuchen und die Quan-
tität Erde, die ſie in 24 Stunden verſchlingen, zu beſtimmen.
Uebrigens ſind die Otomaken nicht das einzige Volk am Ori-
noko, bei dem Thon als Nahrungsmittel gilt. Auch bei den
Guamos findet man Spuren von dieſer Verirrung des Nah-
rungstriebes, und zwiſchen den Einflüſſen des Meta und des
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/130>, abgerufen am 26.06.2024.
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