wuchs, über den Palmen mit Federbuschlaub hoch in die Luft steigend, spiegelt sich im Fluß. Das Grün am re- flektierten Bilde ist ganz so satt als am direkt gesehenen Gegenstand, so glatt und eben ist die Wasserfläche, so frei von suspendiertem Sand und organischen Trümmern, die auf der Oberfläche minder heller Flüsse Streifen und Un- ebenheiten bilden.
Wo man vom Orinoko abfährt, kommt man, aber ohne alle Gefahr, über mehrere kleine Stromschnellen. Mitten in diesen Raudialitos ergießt sich, wie die Missionäre an- nehmen, der Atabapo in den Orinoko. Nach meiner Ansicht ergießt sich aber der Atabapo vielmehr in den Guaviare, und diesen Namen sollte man der Flußstrecke vom Orinoko bis zur Mission San Fernando geben. Der Rio Guaviare ist weit breiter als der Atabapo, hat weißes Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seine gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoko weit mehr gleicht als der Teil dieses Flusses, der von Esmeralda herkommt. Wenn sich ein Strom durch die Vereinigung zweier fast gleich breiten Flüsse bildet, so ist schwer zu sagen, welchen derselben man als die Quelle zu betrachten hat. Die Indianer in San Fernando haben noch heute eine Anschauung, die der der Geographen gerade zu- widerläuft. Sie behaupten, der Orinoko entspringe aus zwei Flüssen, aus dem Guaviare und dem Rio Paragua. Unter letzterem Namen verstehen sie den oberen Orinoko von San Fernando und Santa Barbara bis über Esmeralda hinauf. Dieser Annahme zufolge ist ihnen der Cassiquiare kein Arm des Orinoko, sondern des Rio Paragua. Ein Blick auf die von mir entworfene Karte zeigt, daß diese Benennungen völlig willkürlich sind. Ob man dem Rio Paragua den Namen Orinoko abstreitet, daran ist wenig gelegen, wenn man nur den Lauf der Flüsse naturgetreu zeichnet, und nicht, wie man vor meiner Reise gethan, Flüsse, die untereinander zusammen- hängen und ein System bilden, durch eine Gebirgskette ge- trennt sein läßt. Will man einen der beiden Zweige, die einen großen Fluß bilden, nach dem letzteren benennen, so muß man den Namen dem wasserreichsten derselben beilegen. In den beiden Jahreszeiten, wo ich den Guaviare und den oberen Orinoko oder Rio Paragua (zwischen Esmeralda und San Fernando) gesehen, kam es mir nun aber vor, als wäre letzterer nicht so breit als der Guaviare. Die Vereinigung
A. v. Humboldt, Reise. III. 14
wuchs, über den Palmen mit Federbuſchlaub hoch in die Luft ſteigend, ſpiegelt ſich im Fluß. Das Grün am re- flektierten Bilde iſt ganz ſo ſatt als am direkt geſehenen Gegenſtand, ſo glatt und eben iſt die Waſſerfläche, ſo frei von ſuspendiertem Sand und organiſchen Trümmern, die auf der Oberfläche minder heller Flüſſe Streifen und Un- ebenheiten bilden.
Wo man vom Orinoko abfährt, kommt man, aber ohne alle Gefahr, über mehrere kleine Stromſchnellen. Mitten in dieſen Raudialitos ergießt ſich, wie die Miſſionäre an- nehmen, der Atabapo in den Orinoko. Nach meiner Anſicht ergießt ſich aber der Atabapo vielmehr in den Guaviare, und dieſen Namen ſollte man der Flußſtrecke vom Orinoko bis zur Miſſion San Fernando geben. Der Rio Guaviare iſt weit breiter als der Atabapo, hat weißes Waſſer, und der ganze Anblick ſeiner Ufer, ſeine gefiederten Fiſchfänger, ſeine Fiſche, die großen Krokodile, die darin hauſen, machen, daß er dem Orinoko weit mehr gleicht als der Teil dieſes Fluſſes, der von Esmeralda herkommt. Wenn ſich ein Strom durch die Vereinigung zweier faſt gleich breiten Flüſſe bildet, ſo iſt ſchwer zu ſagen, welchen derſelben man als die Quelle zu betrachten hat. Die Indianer in San Fernando haben noch heute eine Anſchauung, die der der Geographen gerade zu- widerläuft. Sie behaupten, der Orinoko entſpringe aus zwei Flüſſen, aus dem Guaviare und dem Rio Paragua. Unter letzterem Namen verſtehen ſie den oberen Orinoko von San Fernando und Santa Barbara bis über Esmeralda hinauf. Dieſer Annahme zufolge iſt ihnen der Caſſiquiare kein Arm des Orinoko, ſondern des Rio Paragua. Ein Blick auf die von mir entworfene Karte zeigt, daß dieſe Benennungen völlig willkürlich ſind. Ob man dem Rio Paragua den Namen Orinoko abſtreitet, daran iſt wenig gelegen, wenn man nur den Lauf der Flüſſe naturgetreu zeichnet, und nicht, wie man vor meiner Reiſe gethan, Flüſſe, die untereinander zuſammen- hängen und ein Syſtem bilden, durch eine Gebirgskette ge- trennt ſein läßt. Will man einen der beiden Zweige, die einen großen Fluß bilden, nach dem letzteren benennen, ſo muß man den Namen dem waſſerreichſten derſelben beilegen. In den beiden Jahreszeiten, wo ich den Guaviare und den oberen Orinoko oder Rio Paragua (zwiſchen Esmeralda und San Fernando) geſehen, kam es mir nun aber vor, als wäre letzterer nicht ſo breit als der Guaviare. Die Vereinigung
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 14
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wuchs, über den Palmen mit Federbuſchlaub hoch in die
Luft ſteigend, ſpiegelt ſich im Fluß. Das Grün am re-
flektierten Bilde iſt ganz ſo ſatt als am direkt geſehenen
Gegenſtand, ſo glatt und eben iſt die Waſſerfläche, ſo frei
von ſuspendiertem Sand und organiſchen Trümmern, die
auf der Oberfläche minder heller Flüſſe Streifen und Un-
ebenheiten bilden.
Wo man vom Orinoko abfährt, kommt man, aber ohne
alle Gefahr, über mehrere kleine Stromſchnellen. Mitten in
dieſen Raudialitos ergießt ſich, wie die Miſſionäre an-
nehmen, der Atabapo in den Orinoko. Nach meiner Anſicht
ergießt ſich aber der Atabapo vielmehr in den Guaviare, und
dieſen Namen ſollte man der Flußſtrecke vom Orinoko bis zur
Miſſion San Fernando geben. Der Rio Guaviare iſt weit
breiter als der Atabapo, hat weißes Waſſer, und der ganze
Anblick ſeiner Ufer, ſeine gefiederten Fiſchfänger, ſeine Fiſche,
die großen Krokodile, die darin hauſen, machen, daß er dem
Orinoko weit mehr gleicht als der Teil dieſes Fluſſes, der
von Esmeralda herkommt. Wenn ſich ein Strom durch die
Vereinigung zweier faſt gleich breiten Flüſſe bildet, ſo iſt
ſchwer zu ſagen, welchen derſelben man als die Quelle zu
betrachten hat. Die Indianer in San Fernando haben noch
heute eine Anſchauung, die der der Geographen gerade zu-
widerläuft. Sie behaupten, der Orinoko entſpringe aus zwei
Flüſſen, aus dem Guaviare und dem Rio Paragua. Unter
letzterem Namen verſtehen ſie den oberen Orinoko von San
Fernando und Santa Barbara bis über Esmeralda hinauf.
Dieſer Annahme zufolge iſt ihnen der Caſſiquiare kein Arm
des Orinoko, ſondern des Rio Paragua. Ein Blick auf die
von mir entworfene Karte zeigt, daß dieſe Benennungen völlig
willkürlich ſind. Ob man dem Rio Paragua den Namen
Orinoko abſtreitet, daran iſt wenig gelegen, wenn man nur
den Lauf der Flüſſe naturgetreu zeichnet, und nicht, wie man
vor meiner Reiſe gethan, Flüſſe, die untereinander zuſammen-
hängen und ein Syſtem bilden, durch eine Gebirgskette ge-
trennt ſein läßt. Will man einen der beiden Zweige, die
einen großen Fluß bilden, nach dem letzteren benennen, ſo
muß man den Namen dem waſſerreichſten derſelben beilegen.
In den beiden Jahreszeiten, wo ich den Guaviare und den
oberen Orinoko oder Rio Paragua (zwiſchen Esmeralda und
San Fernando) geſehen, kam es mir nun aber vor, als wäre
letzterer nicht ſo breit als der Guaviare. Die Vereinigung
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/217>, abgerufen am 22.07.2024.
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