bilder benützen; obgleich wir uns mitten im Orinoko befanden, war die Moskitowolke so dick, daß ich nicht die Geduld hatte, den künstlichen Horizont zu richten.
Am 22. April. Wir brachen anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang auf. Der Morgen war feucht, aber herrlich; kein Lüftchen ließ sich spüren, denn südlich von Atures und Maypures herrscht beständig Windstille. Am Rio Negro und Cassiquiare, am Fuß des Cerro Duida in der Mission Santa Barbara hörten wir niemals das Rauschen des Laubes, das in heißen Ländern einen ganz eigentümlichen Reiz hat. Die Krümmungen des Stromes, die schützenden Berge, die un- durchdringlichen Wälder und der Regen, der einen bis zwei Grade nördlich vom Aequator fast gar nicht aussetzt, mögen diese Erscheinung veranlassen, die den Missionen am Orinoko eigentümlich ist.
In dem unter südlicher Breite, aber ebenso weit vom Aequator gelegenen Thal des Amazonenstromes erhebt sich alle Tage, 2 Stunden nach der Kulmination der Sonne, ein sehr starker Wind. Derselbe weht immer gegen die Strömung und wird nur im Flußbett selbst gespürt. Unterhalb San Borja ist es ein Ostwind; in Tomependa fand ich ihn zwischen Nord und Nord-Nord-Ost. Es ist immer die Brise, der von der Umdrehung der Erde herrührende Wind, der aber durch kleine örtliche Verhältnisse bald diese, bald jene Richtung bekommt. Mit diesem beständigen Wind segelt man von Gran Para bis Tefe, 3375 km weit, den Amazonenstrom hinauf. In der Provinz Jaen de Bracamoros, am Fuße des Westabhanges der Kordilleren, tritt dieser vom Atlantischen Meere herkom- mende Wind zuweilen als ein eigentlicher Sturm auf. Wenn man auf das Flußufer zugeht, kann man sich kaum auf den Beinen halten; so auffallend anders sind die Verhältnisse am oberen Orinoko und am oberen Amazonenstrom.
Sehr wahrscheinlich ist es diesem beständig wehenden Winde zuzuschreiben, daß der Amazonenstrom so viel gesunder ist. In der stockenden Luft am oberen Orinoko sind die chemi- schen Affinitäten eingreifender und es entwickeln sich mehr schädliche Miasmen. Die bewaldeten Ufer des Amazonen- stromes wären ebenso ungesund, wenn nicht der Fluß, gleich dem Niger, seiner ungeheuren Länge nach von West nach Ost, also in der Richtung der Passatwinde, gerade fortliefe. Das Thal des Amazonenstromes ist nur an seinem westlichen Ende, wo es der Kordillere der Anden naherückt, geschlossen. Gegen
bilder benützen; obgleich wir uns mitten im Orinoko befanden, war die Moskitowolke ſo dick, daß ich nicht die Geduld hatte, den künſtlichen Horizont zu richten.
Am 22. April. Wir brachen anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang auf. Der Morgen war feucht, aber herrlich; kein Lüftchen ließ ſich ſpüren, denn ſüdlich von Atures und Maypures herrſcht beſtändig Windſtille. Am Rio Negro und Caſſiquiare, am Fuß des Cerro Duida in der Miſſion Santa Barbara hörten wir niemals das Rauſchen des Laubes, das in heißen Ländern einen ganz eigentümlichen Reiz hat. Die Krümmungen des Stromes, die ſchützenden Berge, die un- durchdringlichen Wälder und der Regen, der einen bis zwei Grade nördlich vom Aequator faſt gar nicht ausſetzt, mögen dieſe Erſcheinung veranlaſſen, die den Miſſionen am Orinoko eigentümlich iſt.
In dem unter ſüdlicher Breite, aber ebenſo weit vom Aequator gelegenen Thal des Amazonenſtromes erhebt ſich alle Tage, 2 Stunden nach der Kulmination der Sonne, ein ſehr ſtarker Wind. Derſelbe weht immer gegen die Strömung und wird nur im Flußbett ſelbſt geſpürt. Unterhalb San Borja iſt es ein Oſtwind; in Tomependa fand ich ihn zwiſchen Nord und Nord-Nord-Oſt. Es iſt immer die Briſe, der von der Umdrehung der Erde herrührende Wind, der aber durch kleine örtliche Verhältniſſe bald dieſe, bald jene Richtung bekommt. Mit dieſem beſtändigen Wind ſegelt man von Gran Para bis Tefe, 3375 km weit, den Amazonenſtrom hinauf. In der Provinz Jaen de Bracamoros, am Fuße des Weſtabhanges der Kordilleren, tritt dieſer vom Atlantiſchen Meere herkom- mende Wind zuweilen als ein eigentlicher Sturm auf. Wenn man auf das Flußufer zugeht, kann man ſich kaum auf den Beinen halten; ſo auffallend anders ſind die Verhältniſſe am oberen Orinoko und am oberen Amazonenſtrom.
Sehr wahrſcheinlich iſt es dieſem beſtändig wehenden Winde zuzuſchreiben, daß der Amazonenſtrom ſo viel geſunder iſt. In der ſtockenden Luft am oberen Orinoko ſind die chemi- ſchen Affinitäten eingreifender und es entwickeln ſich mehr ſchädliche Miasmen. Die bewaldeten Ufer des Amazonen- ſtromes wären ebenſo ungeſund, wenn nicht der Fluß, gleich dem Niger, ſeiner ungeheuren Länge nach von Weſt nach Oſt, alſo in der Richtung der Paſſatwinde, gerade fortliefe. Das Thal des Amazonenſtromes iſt nur an ſeinem weſtlichen Ende, wo es der Kordillere der Anden naherückt, geſchloſſen. Gegen
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war die Moskitowolke ſo dick, daß ich nicht die Geduld hatte,
den künſtlichen Horizont zu richten.
Am 22. April. Wir brachen anderthalb Stunden vor
Sonnenaufgang auf. Der Morgen war feucht, aber herrlich;
kein Lüftchen ließ ſich ſpüren, denn ſüdlich von Atures und
Maypures herrſcht beſtändig Windſtille. Am Rio Negro und
Caſſiquiare, am Fuß des Cerro Duida in der Miſſion Santa
Barbara hörten wir niemals das Rauſchen des Laubes, das
in heißen Ländern einen ganz eigentümlichen Reiz hat. Die
Krümmungen des Stromes, die ſchützenden Berge, die un-
durchdringlichen Wälder und der Regen, der einen bis zwei
Grade nördlich vom Aequator faſt gar nicht ausſetzt, mögen
dieſe Erſcheinung veranlaſſen, die den Miſſionen am Orinoko
eigentümlich iſt.
In dem unter ſüdlicher Breite, aber ebenſo weit vom
Aequator gelegenen Thal des Amazonenſtromes erhebt ſich alle
Tage, 2 Stunden nach der Kulmination der Sonne, ein ſehr
ſtarker Wind. Derſelbe weht immer gegen die Strömung und
wird nur im Flußbett ſelbſt geſpürt. Unterhalb San Borja
iſt es ein Oſtwind; in Tomependa fand ich ihn zwiſchen Nord
und Nord-Nord-Oſt. Es iſt immer die Briſe, der von der
Umdrehung der Erde herrührende Wind, der aber durch kleine
örtliche Verhältniſſe bald dieſe, bald jene Richtung bekommt.
Mit dieſem beſtändigen Wind ſegelt man von Gran Para bis
Tefe, 3375 km weit, den Amazonenſtrom hinauf. In der
Provinz Jaen de Bracamoros, am Fuße des Weſtabhanges
der Kordilleren, tritt dieſer vom Atlantiſchen Meere herkom-
mende Wind zuweilen als ein eigentlicher Sturm auf. Wenn
man auf das Flußufer zugeht, kann man ſich kaum auf den
Beinen halten; ſo auffallend anders ſind die Verhältniſſe am
oberen Orinoko und am oberen Amazonenſtrom.
Sehr wahrſcheinlich iſt es dieſem beſtändig wehenden
Winde zuzuſchreiben, daß der Amazonenſtrom ſo viel geſunder
iſt. In der ſtockenden Luft am oberen Orinoko ſind die chemi-
ſchen Affinitäten eingreifender und es entwickeln ſich mehr
ſchädliche Miasmen. Die bewaldeten Ufer des Amazonen-
ſtromes wären ebenſo ungeſund, wenn nicht der Fluß, gleich
dem Niger, ſeiner ungeheuren Länge nach von Weſt nach Oſt,
alſo in der Richtung der Paſſatwinde, gerade fortliefe. Das
Thal des Amazonenſtromes iſt nur an ſeinem weſtlichen Ende,
wo es der Kordillere der Anden naherückt, geſchloſſen. Gegen
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/192>, abgerufen am 20.07.2024.
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