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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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verschiedenen Klimaten selbst gesehen, so sieht man sich zu der
Anschauung gedrängt, daß jene tiefen Spalten, jene hoch auf-
gerichteten Schichten, jene zerstreuten Blöcke, all die Spuren
einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außergewöhnlicher
Ursachen sind, die mit denen, welche im gegenwärtigen Zu-
stande der Ruhe und des Friedens an der Erdoberfläche thätig
sind, nichts gemein haben. Was das Wasser durch Auswaschung
von Granit wegführt, was die feuchte Luft am harten, nicht
verwitterten Gestein zerstört, entzieht sich unseren Sinnen fast
ganz, und ich kann nicht glauben, daß, wie manche Geologen
annehmen, die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen niedriger
werden, weil die Geschiebe sich in den Gründen am Fuße der
Gebirge aufhäufen. Im Nil wie im Orinoko können die
Stromschnellen einen geringeren Fall bekommen, ohne daß die
Felsdämme merkbar anders werden. Die relative Höhe der
Fälle kann durch die Anschwemmungen, die sich unterhalb der
Stromschnellen bilden, abnehmen.

Wenn auch diese Betrachtungen einiges Licht über die
anziehende Erscheinung der Katarakte verbreiten, so sind da-
mit die übertriebenen Beschreibungen der Stromschnellen bei
Syene, welche von den Alten1 auf uns gekommen, allerdings
nicht begreiflich zu machen. Sollten sie aber nicht vielleicht
auf diesen unteren Wasserfall übertragen haben, was sie vom
Hörensagen von den oberen Fällen des Flusses in Nubien
und Dongola wußten, die zahlreicher und gefährlicher sind?2
Syene lag an der Grenze des römischen Reiches,3 fast an der
Grenze der bekannten Welt, und im Raume, wie in den
Schöpfungen des menschlichen Geistes fangen die phantasti-
schen Vorstellungen an, wo die klaren Begriffe aufhören.


1 Auszunehmen ist Strabo, dessen Beschreibung ebenso einfach
als genau erscheint. Nach ihm hätte seit dem ersten Jahrhundert
vor unserer Zeitrechnung die Schnelligkeit des Wassersturzes abge-
nommen und seine Richtung sich verändert. Damals ging man
den Chellal auf beiden Seiten hinauf, gegenwärtig ist nur auf
einer Seite eine Wasserstraße; der Katarakt ist also eher schwerer
befahrbar geworden.
2 Hatten wohl die Alten eine dunkle Kunde von den großen
Katarakten des östlichen oder blauen Nil zwischen Fazoql und Alata,
die über 65 m hoch sind.
3 Claustra imperii romani, sagt Tacitus. Im Namen der
Insel Philä findet man das koptische Wort phe-lakh, Ende (Ende
Aegyptens) wieder.

verſchiedenen Klimaten ſelbſt geſehen, ſo ſieht man ſich zu der
Anſchauung gedrängt, daß jene tiefen Spalten, jene hoch auf-
gerichteten Schichten, jene zerſtreuten Blöcke, all die Spuren
einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außergewöhnlicher
Urſachen ſind, die mit denen, welche im gegenwärtigen Zu-
ſtande der Ruhe und des Friedens an der Erdoberfläche thätig
ſind, nichts gemein haben. Was das Waſſer durch Auswaſchung
von Granit wegführt, was die feuchte Luft am harten, nicht
verwitterten Geſtein zerſtört, entzieht ſich unſeren Sinnen faſt
ganz, und ich kann nicht glauben, daß, wie manche Geologen
annehmen, die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen niedriger
werden, weil die Geſchiebe ſich in den Gründen am Fuße der
Gebirge aufhäufen. Im Nil wie im Orinoko können die
Stromſchnellen einen geringeren Fall bekommen, ohne daß die
Felsdämme merkbar anders werden. Die relative Höhe der
Fälle kann durch die Anſchwemmungen, die ſich unterhalb der
Stromſchnellen bilden, abnehmen.

Wenn auch dieſe Betrachtungen einiges Licht über die
anziehende Erſcheinung der Katarakte verbreiten, ſo ſind da-
mit die übertriebenen Beſchreibungen der Stromſchnellen bei
Syene, welche von den Alten1 auf uns gekommen, allerdings
nicht begreiflich zu machen. Sollten ſie aber nicht vielleicht
auf dieſen unteren Waſſerfall übertragen haben, was ſie vom
Hörenſagen von den oberen Fällen des Fluſſes in Nubien
und Dongola wußten, die zahlreicher und gefährlicher ſind?2
Syene lag an der Grenze des römiſchen Reiches,3 faſt an der
Grenze der bekannten Welt, und im Raume, wie in den
Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes fangen die phantaſti-
ſchen Vorſtellungen an, wo die klaren Begriffe aufhören.


1 Auszunehmen iſt Strabo, deſſen Beſchreibung ebenſo einfach
als genau erſcheint. Nach ihm hätte ſeit dem erſten Jahrhundert
vor unſerer Zeitrechnung die Schnelligkeit des Waſſerſturzes abge-
nommen und ſeine Richtung ſich verändert. Damals ging man
den Chellal auf beiden Seiten hinauf, gegenwärtig iſt nur auf
einer Seite eine Waſſerſtraße; der Katarakt iſt alſo eher ſchwerer
befahrbar geworden.
2 Hatten wohl die Alten eine dunkle Kunde von den großen
Katarakten des öſtlichen oder blauen Nil zwiſchen Fazoql und Alata,
die über 65 m hoch ſind.
3 Claustra imperii romani, ſagt Tacitus. Im Namen der
Inſel Philä findet man das koptiſche Wort phe-lakh, Ende (Ende
Aegyptens) wieder.
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[132/0140] verſchiedenen Klimaten ſelbſt geſehen, ſo ſieht man ſich zu der Anſchauung gedrängt, daß jene tiefen Spalten, jene hoch auf- gerichteten Schichten, jene zerſtreuten Blöcke, all die Spuren einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außergewöhnlicher Urſachen ſind, die mit denen, welche im gegenwärtigen Zu- ſtande der Ruhe und des Friedens an der Erdoberfläche thätig ſind, nichts gemein haben. Was das Waſſer durch Auswaſchung von Granit wegführt, was die feuchte Luft am harten, nicht verwitterten Geſtein zerſtört, entzieht ſich unſeren Sinnen faſt ganz, und ich kann nicht glauben, daß, wie manche Geologen annehmen, die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen niedriger werden, weil die Geſchiebe ſich in den Gründen am Fuße der Gebirge aufhäufen. Im Nil wie im Orinoko können die Stromſchnellen einen geringeren Fall bekommen, ohne daß die Felsdämme merkbar anders werden. Die relative Höhe der Fälle kann durch die Anſchwemmungen, die ſich unterhalb der Stromſchnellen bilden, abnehmen. Wenn auch dieſe Betrachtungen einiges Licht über die anziehende Erſcheinung der Katarakte verbreiten, ſo ſind da- mit die übertriebenen Beſchreibungen der Stromſchnellen bei Syene, welche von den Alten 1 auf uns gekommen, allerdings nicht begreiflich zu machen. Sollten ſie aber nicht vielleicht auf dieſen unteren Waſſerfall übertragen haben, was ſie vom Hörenſagen von den oberen Fällen des Fluſſes in Nubien und Dongola wußten, die zahlreicher und gefährlicher ſind? 2 Syene lag an der Grenze des römiſchen Reiches, 3 faſt an der Grenze der bekannten Welt, und im Raume, wie in den Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes fangen die phantaſti- ſchen Vorſtellungen an, wo die klaren Begriffe aufhören. 1 Auszunehmen iſt Strabo, deſſen Beſchreibung ebenſo einfach als genau erſcheint. Nach ihm hätte ſeit dem erſten Jahrhundert vor unſerer Zeitrechnung die Schnelligkeit des Waſſerſturzes abge- nommen und ſeine Richtung ſich verändert. Damals ging man den Chellal auf beiden Seiten hinauf, gegenwärtig iſt nur auf einer Seite eine Waſſerſtraße; der Katarakt iſt alſo eher ſchwerer befahrbar geworden. 2 Hatten wohl die Alten eine dunkle Kunde von den großen Katarakten des öſtlichen oder blauen Nil zwiſchen Fazoql und Alata, die über 65 m hoch ſind. 3 Claustra imperii romani, ſagt Tacitus. Im Namen der Inſel Philä findet man das koptiſche Wort phe-lakh, Ende (Ende Aegyptens) wieder.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/140>, abgerufen am 19.04.2024.