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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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heitsformen, neue Verstimmungen der Lebenskräfte sich aus-
bilden. Es ist dies eines der notwendigen Uebel im Gefolge
fortschreitender Kultur; wer darauf hinweist, wünscht darum
keineswegs die Barbarei zurück; ebensowenig teilt er die An-
sicht der Leute, die dem Verkehr unter den Völkern gern ein
Ende machten, nicht um die Häfen in den Kolonieen vom
Seuchengift zu reinigen, sondern um dem Eindringen der
Aufklärung zu wehren und die Geistesentwickelung aufzuhalten.

Die Nordwinde, welche die kalte Luft von Kanada her
in den Mexikanischen Meerbusen führen, machen periodisch dem
gelben Fieber und schwarzen Erbrechen in der Havana und
in Veracruz ein Ende. Aber bei der großen Beständigkeit
der Temperatur, wie sie in Porto Cabello, Guayra, Nueva
Barcelona und Cumana herrscht, ist zu befürchten, der Typhus
möchte dort einheimisch werden, wenn er einmal infolge des
starken Fremdenverkehres sehr bösartig aufgetreten ist. Glück-
licherweise hat sich die Sterblichkeit vermindert, seit man sich
in der Behandlung nach dem Charakter der Epidemieen in
verschiedenen Jahren richtet, und seit man die verschiedenen
Stadien der Krankheit, die Periode der entzündlichen Er-
scheinungen, und die der Ataxie oder Schwäche, besser kennt
und auseinander hält. Es wäre sicher unrecht, in Abrede zu
ziehen, daß die neuere Medizin gegen dieses schreckliche Uebel
schon Bedeutendes geleistet; aber der Glaube an diese Lei-
stungen ist in den Kolonieen gar nicht weit verbreitet. Man
hört ziemlich allgemein die Aeußerung: "Die Aerzte wissen
jetzt den Hergang der Krankheit befriedigender zu erklären als
früher, sie heilen sie aber keineswegs besser; früher sei man
langsam hingestorben, ohne alle Arznei, außer einem Tama-
rindenaufguß; gegenwärtig führe ein eingreifenderes Heil-
verfahren rascher und unmittelbarer zum Tode."

Wer so spricht, weiß nicht ganz, wie man früher auf
den Antillen zu Werke ging. Aus der Reise des Paters
Labat kann man ersehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts
die Aerzte auf den Antillen den Kranken nicht so ruhig sterben
ließen, als man meint. Man tötete damals nicht durch über-
triebene und unzeitige Anwendung von Brechmitteln, von
China und Opium, wohl aber durch wiederholte Aderlässe
und übermäßiges Purgieren. Die Aerzte schienen auch mit
der Wirkung ihres Verfahrens so gut bekannt, daß sie, sehr
treuherzig, "gleich beim ersten Besuch mit Beichtvater und
Notar am Krankenbett erschienen". Gegenwärtig bringt man

heitsformen, neue Verſtimmungen der Lebenskräfte ſich aus-
bilden. Es iſt dies eines der notwendigen Uebel im Gefolge
fortſchreitender Kultur; wer darauf hinweiſt, wünſcht darum
keineswegs die Barbarei zurück; ebenſowenig teilt er die An-
ſicht der Leute, die dem Verkehr unter den Völkern gern ein
Ende machten, nicht um die Häfen in den Kolonieen vom
Seuchengift zu reinigen, ſondern um dem Eindringen der
Aufklärung zu wehren und die Geiſtesentwickelung aufzuhalten.

Die Nordwinde, welche die kalte Luft von Kanada her
in den Mexikaniſchen Meerbuſen führen, machen periodiſch dem
gelben Fieber und ſchwarzen Erbrechen in der Havana und
in Veracruz ein Ende. Aber bei der großen Beſtändigkeit
der Temperatur, wie ſie in Porto Cabello, Guayra, Nueva
Barcelona und Cumana herrſcht, iſt zu befürchten, der Typhus
möchte dort einheimiſch werden, wenn er einmal infolge des
ſtarken Fremdenverkehres ſehr bösartig aufgetreten iſt. Glück-
licherweiſe hat ſich die Sterblichkeit vermindert, ſeit man ſich
in der Behandlung nach dem Charakter der Epidemieen in
verſchiedenen Jahren richtet, und ſeit man die verſchiedenen
Stadien der Krankheit, die Periode der entzündlichen Er-
ſcheinungen, und die der Ataxie oder Schwäche, beſſer kennt
und auseinander hält. Es wäre ſicher unrecht, in Abrede zu
ziehen, daß die neuere Medizin gegen dieſes ſchreckliche Uebel
ſchon Bedeutendes geleiſtet; aber der Glaube an dieſe Lei-
ſtungen iſt in den Kolonieen gar nicht weit verbreitet. Man
hört ziemlich allgemein die Aeußerung: „Die Aerzte wiſſen
jetzt den Hergang der Krankheit befriedigender zu erklären als
früher, ſie heilen ſie aber keineswegs beſſer; früher ſei man
langſam hingeſtorben, ohne alle Arznei, außer einem Tama-
rindenaufguß; gegenwärtig führe ein eingreifenderes Heil-
verfahren raſcher und unmittelbarer zum Tode.“

Wer ſo ſpricht, weiß nicht ganz, wie man früher auf
den Antillen zu Werke ging. Aus der Reiſe des Paters
Labat kann man erſehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts
die Aerzte auf den Antillen den Kranken nicht ſo ruhig ſterben
ließen, als man meint. Man tötete damals nicht durch über-
triebene und unzeitige Anwendung von Brechmitteln, von
China und Opium, wohl aber durch wiederholte Aderläſſe
und übermäßiges Purgieren. Die Aerzte ſchienen auch mit
der Wirkung ihres Verfahrens ſo gut bekannt, daß ſie, ſehr
treuherzig, „gleich beim erſten Beſuch mit Beichtvater und
Notar am Krankenbett erſchienen“. Gegenwärtig bringt man

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[86/0094] heitsformen, neue Verſtimmungen der Lebenskräfte ſich aus- bilden. Es iſt dies eines der notwendigen Uebel im Gefolge fortſchreitender Kultur; wer darauf hinweiſt, wünſcht darum keineswegs die Barbarei zurück; ebenſowenig teilt er die An- ſicht der Leute, die dem Verkehr unter den Völkern gern ein Ende machten, nicht um die Häfen in den Kolonieen vom Seuchengift zu reinigen, ſondern um dem Eindringen der Aufklärung zu wehren und die Geiſtesentwickelung aufzuhalten. Die Nordwinde, welche die kalte Luft von Kanada her in den Mexikaniſchen Meerbuſen führen, machen periodiſch dem gelben Fieber und ſchwarzen Erbrechen in der Havana und in Veracruz ein Ende. Aber bei der großen Beſtändigkeit der Temperatur, wie ſie in Porto Cabello, Guayra, Nueva Barcelona und Cumana herrſcht, iſt zu befürchten, der Typhus möchte dort einheimiſch werden, wenn er einmal infolge des ſtarken Fremdenverkehres ſehr bösartig aufgetreten iſt. Glück- licherweiſe hat ſich die Sterblichkeit vermindert, ſeit man ſich in der Behandlung nach dem Charakter der Epidemieen in verſchiedenen Jahren richtet, und ſeit man die verſchiedenen Stadien der Krankheit, die Periode der entzündlichen Er- ſcheinungen, und die der Ataxie oder Schwäche, beſſer kennt und auseinander hält. Es wäre ſicher unrecht, in Abrede zu ziehen, daß die neuere Medizin gegen dieſes ſchreckliche Uebel ſchon Bedeutendes geleiſtet; aber der Glaube an dieſe Lei- ſtungen iſt in den Kolonieen gar nicht weit verbreitet. Man hört ziemlich allgemein die Aeußerung: „Die Aerzte wiſſen jetzt den Hergang der Krankheit befriedigender zu erklären als früher, ſie heilen ſie aber keineswegs beſſer; früher ſei man langſam hingeſtorben, ohne alle Arznei, außer einem Tama- rindenaufguß; gegenwärtig führe ein eingreifenderes Heil- verfahren raſcher und unmittelbarer zum Tode.“ Wer ſo ſpricht, weiß nicht ganz, wie man früher auf den Antillen zu Werke ging. Aus der Reiſe des Paters Labat kann man erſehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Aerzte auf den Antillen den Kranken nicht ſo ruhig ſterben ließen, als man meint. Man tötete damals nicht durch über- triebene und unzeitige Anwendung von Brechmitteln, von China und Opium, wohl aber durch wiederholte Aderläſſe und übermäßiges Purgieren. Die Aerzte ſchienen auch mit der Wirkung ihres Verfahrens ſo gut bekannt, daß ſie, ſehr treuherzig, „gleich beim erſten Beſuch mit Beichtvater und Notar am Krankenbett erſchienen“. Gegenwärtig bringt man

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/94>, abgerufen am 07.05.2024.