Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten, Auf der Silla von Caracas ist der ungeheure nördliche Es war jetzt sieben Monate, daß wir auf dem Gipfel Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten, Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0147" n="139"/> <p>Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten,<lb/> ganz klaren Himmel. Wir genoſſen einer ungemein weiten<lb/> Ausſicht; wir ſahen zugleich nach Norden über die See weg,<lb/> nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der<lb/> Barometer ſtand auf 550 <hi rendition="#aq">mm</hi>, die Temperatur der Luft war<lb/> 13,7°. Wir waren in 2630 <hi rendition="#aq">m</hi> Meereshöhe. Man überblickt<lb/> eine Meeresſtrecke von 172 <hi rendition="#aq">km</hi> Halbmeſſer. Wem beim Blick<lb/> in große Tiefen ſchwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen<lb/> Plateau bleiben. Durch ſeine Höhe iſt der Berg eben nicht<lb/> ausgezeichnet; iſt er doch gegen 195 <hi rendition="#aq">m</hi> niedriger als der<lb/> Canigou in den Pyrenäen; aber er unterſcheidet ſich von allen<lb/> Bergen, die ich bereiſt, durch den ungeheuren Abſturz gegen<lb/> die See zu. Die Küſte bildet nur einen ſchmalen Saum,<lb/> und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuſer<lb/> von Caravalleda hinab, ſo meint man infolge einer öfter er-<lb/> wähnten optiſchen Täuſchung, die Felswand ſei beinahe ſenk-<lb/> recht. Nach einer genauen Berechnung ſchien mir der Neigungs-<lb/> winkel 53° 28′; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung<lb/> im Durchſchnitt kaum 12° 30′. Ein 1950 bis 2270 <hi rendition="#aq">m</hi> hoher<lb/> Abſturz wie an der Silla von Caracas iſt eine weit ſeltenere<lb/> Erſcheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reiſt,<lb/> ohne ihre Höhen, ihre Maſſen und ihre Abhänge zu meſſen.<lb/> Seit man ſich in mehreren Ländern Europas von neuem mit<lb/> Verſuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung<lb/> gegen Südoſt beſchäftigt, hat man in den Schweizer Alpen<lb/> ſich überall vergeblich nach einer ſenkrechten, 490 <hi rendition="#aq">m</hi> hohen<lb/> Felswand umgeſehen. Der Neigungswinkel des Montblanc<lb/> gegen die <hi rendition="#aq">Allée blanche</hi> beträgt keine 45°, obgleich man in<lb/> den meiſten geologiſchen Werken lieſt, der Montblanc falle<lb/> gegen Süd ſenkrecht ab.</p><lb/> <p>Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche<lb/> Abhang, trotz ſeiner großen Steilheit, zum Teil bewachſen.<lb/> Befaria- und Andromedabüſche hängen an der Felswand.<lb/> Das kleine ſüdwärts gelegene Thal zwiſchen den Gipfeln<lb/> zieht ſich der Meeresküſte zu fort: die Alpenpflanzen füllen dieſe<lb/> Einſenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor<lb/> und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter<lb/> dieſen friſchen Schatten müſſe Waſſer fließen, und die Ver-<lb/> teilung der Gewächſe, die Gruppierung ſo vieler unbeweglicher<lb/> Gegenſtände bringt Leben und Bewegung in die Landſchaft.</p><lb/> <p>Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel<lb/> des Vulkans von Tenerifa geſtanden hatten, wo man eine<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0147]
Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten,
ganz klaren Himmel. Wir genoſſen einer ungemein weiten
Ausſicht; wir ſahen zugleich nach Norden über die See weg,
nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der
Barometer ſtand auf 550 mm, die Temperatur der Luft war
13,7°. Wir waren in 2630 m Meereshöhe. Man überblickt
eine Meeresſtrecke von 172 km Halbmeſſer. Wem beim Blick
in große Tiefen ſchwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen
Plateau bleiben. Durch ſeine Höhe iſt der Berg eben nicht
ausgezeichnet; iſt er doch gegen 195 m niedriger als der
Canigou in den Pyrenäen; aber er unterſcheidet ſich von allen
Bergen, die ich bereiſt, durch den ungeheuren Abſturz gegen
die See zu. Die Küſte bildet nur einen ſchmalen Saum,
und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuſer
von Caravalleda hinab, ſo meint man infolge einer öfter er-
wähnten optiſchen Täuſchung, die Felswand ſei beinahe ſenk-
recht. Nach einer genauen Berechnung ſchien mir der Neigungs-
winkel 53° 28′; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung
im Durchſchnitt kaum 12° 30′. Ein 1950 bis 2270 m hoher
Abſturz wie an der Silla von Caracas iſt eine weit ſeltenere
Erſcheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reiſt,
ohne ihre Höhen, ihre Maſſen und ihre Abhänge zu meſſen.
Seit man ſich in mehreren Ländern Europas von neuem mit
Verſuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung
gegen Südoſt beſchäftigt, hat man in den Schweizer Alpen
ſich überall vergeblich nach einer ſenkrechten, 490 m hohen
Felswand umgeſehen. Der Neigungswinkel des Montblanc
gegen die Allée blanche beträgt keine 45°, obgleich man in
den meiſten geologiſchen Werken lieſt, der Montblanc falle
gegen Süd ſenkrecht ab.
Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche
Abhang, trotz ſeiner großen Steilheit, zum Teil bewachſen.
Befaria- und Andromedabüſche hängen an der Felswand.
Das kleine ſüdwärts gelegene Thal zwiſchen den Gipfeln
zieht ſich der Meeresküſte zu fort: die Alpenpflanzen füllen dieſe
Einſenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor
und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter
dieſen friſchen Schatten müſſe Waſſer fließen, und die Ver-
teilung der Gewächſe, die Gruppierung ſo vieler unbeweglicher
Gegenſtände bringt Leben und Bewegung in die Landſchaft.
Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel
des Vulkans von Tenerifa geſtanden hatten, wo man eine
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